Amazonisches „Stuttgart 21“

von Lúcio Flávio Pinto

(Fortaleza, 22. November 2011, adital).- Als General Ernesto Geisel, Präsident der brasilianischen Militärdiktatur, 1976 die Brücke einweihte, die Belém, die Hauptstadt des Bundesstaates Pará, mit dem Badeort Mosqueiro verband, drängte sich ihm eine Frage auf. Was, so fragte er den Gouverneur Aloysio Chaves, gebe es eigentlich auf der Insel, das den Bau dieser Brücke rechtfertige?

Geisel hatte irgendeine wirtschaftliche Aktivität im Sinn, die eine Verbindung erforderlich mache, um sich besser entwickeln zu können. Oder als Auslöser für Investitionen in die Infrastruktur der Region dienen könnte. Mit Erholung konnte der strenge Präsident nicht viel anfangen. Er wollte Ergebnisse sehen, die garantierten, dass die Investition öffentlicher Gelder sich auch wirklich lohne.

Spekulanten nahmen Brücke dankbar an

Auf krummen Wegen sollte die Zeit dem General, einem Preußen der Neuzeit, unvorhergesehen Recht geben. Die Brücke wirkte sich ausschließlich nachteilig für die Insel Mosqueiro aus. Nicht aufgrund eines bösartigen Rückfalls in die Modernität oder in ein zweifelhaftes Verständnis von Entwicklung. Nein, einfach deshalb, weil es zu einer Invasion kam von Menschen, die sich ein Haus bauen wollten, von Spekulanten und Geschäftemachern. Gleichzeitig „floh“ die staatliche Macht, die dafür verantwortlich ist, das Leben in einer Gesellschaft zu regeln und für die Anwendung der Gesetze zu sorgen. Mosqueiro wird geplündert und fällt der Verschwendung anheim.

Kostenexplosion und Bauverzögerungen

Sowohl Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff als auch ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva hätten die gleichen Zweifel anmelden können gegenüber dem amtierenden Gouverneur des Bundesstaates Amazonas, Omar Aziz von der Partei der Nationalen Mobilisierung PMN (Partido da Mobilização Nacional). Nur dass es sich diesmal um eine Brücke über den Rio Negro handelt, die am 24. Oktober eingeweiht wurde. Das fast 3.600 Meter lange Bauwerk, das Manaus mit der 40.000-EinwohnerInnen-Stadt Iranduba verbindet, ist allerdings zweieinhalb mal so lang und technisch deutlich ausgereifter als die Brücke nach Mosqueiro.

Unter dem Strich lagen die Kosten bei über einer Milliarde Real (umgerechnet rund 420 Mio. Euro) und damit um 90 Prozent über dem Kostenvoranschlag, inklusive ergänzender Arbeiten. Die Bauarbeiten für die Brücke, die schon nach dem ursprünglichen Kostenvoranschlag die teuerste Brasiliens geworden wäre, zogen sich über vier Jahre hin, infolge schlechten Wetters und juristischen Streits.

Expansion von Manaus vorangetrieben

Doch was gibt es auf der anderen Seite? An Bedeutendem oder Wichtigem: nichts. Die Brücke wird keine wirtschaftliche Dynamik auf der Basis endogener Faktoren auslösen. Sie wird sich, im Gegenteil, als Hilfsmittel für die Invasion erweisen, ganz im Dienste der Expansion von Manaus – mit allen schädlichen Auswirkungen des chaotischen Wachstums der Millionen-Metropole. Die Konurbation vollzieht sich hierbei nicht durch ein Verschmelzen, sondern durch einseitiges Vordringen.

Das bedeutet, die Probleme breiten sich aus, statt dass neue Lösungen erarbeitet werden. Und dies auch noch zu einem äußerst hohen Preis. Immerhin hat sich die Brücke zu einer Attraktion für die Bewohner*innen von Manaus gemacht, und sie könnte das Prestige des Gouverneurs des Bundesstaates Amazonas stärken, der einen Nachfolgekandidaten suchen muss, da er sich bereits in seiner zweiten Amtszeit befindet.

Festzuhalten bleibt, dass die Brücke über den Rio Negro – die größte jemals in Brasilien über einen Fluss gebaute – trotz aller Unterschiede die gleichen Folgen haben kann wie die arme Brücke nach Mosqueiro, nur 35 Jahre später.

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