Abracadabra – Galeano stellte neues Buch vor

von JG Lagos

(Montevideo, 04. April 2012, la diaria).- Der uruguayische Journalist und Schriftsteller Eduardo Galeano, einer der wichtigsten Intellektuellen Lateinamerikas, hat am 3. April in Montevideo sein neues Buch „Los hijos de los días“ („Die Kinder der Tage“) vorgestellt. Für die Lesung aus seinem 16. Werk hatte der 71-jährige einen besonderen Ort ausgewählt: Das Teatro Solís, das älteste Theater Lateinamerikas. Der uruguayische Kulturtempel wurde 1856 mit einer Aufführung von Verdis Oper „Ernani“ eingeweiht.

Wie vielen Schriftsteller*innen gelingt es, das Teatro Solís zu füllen? Und das nicht einmal, sondern gleich zweimal? Eduardo Galeano schaffte dies bei seinem Heimspiel. Inmitten eines vergleichsweise kleinen Teils seiner Anhängerschaft las der weltbekannte Verfasser des 1971 erschienenen Klassikers „Die offenen Adern Lateinamerikas“ („Las venas abiertas de América Latina“) anderthalb Stunden lang Passagen aus seinem neuen Buch. In diesem legt Galeano einmal mehr Zeugnis ab von seiner Neigung zu äußerst geschliffenen Kurztexten, die ihren Höhepunkt in der Trilogie „Erinnerung an das Feuer“ („Memoria del fuego“) fand, die im von Zeitraum 1982 bis 1986 erschien. Hier werden die Textfragmente nach Daten geordnet, aber nicht chronologisch: Sie sind nur der Vorwand, um auf eine historische Tatsache der fernen oder der jüngeren Vergangenheit zu sprechen zu kommen.

Anitiimperialismus im weitesten Sinn

Mit ähnlich verspieltem kalendarischen Bezug trug Eduardo Galeano nun Dutzende der 366 Kurztexte seines neuen Buchs vor – der Schriftsteller hat das Jahr um einen Tag verlängert. Begleitet von Applaus und Lachen des Publikums sprang der Schriftsteller von Datum zu Datum; seine Stimme unterstrich dabei die Komik des Geschriebenen, das bei der Lektüre lediglich als Ironie erscheinen würde. Hierbei achtete er gleichermaßen auf die thematische Kontinuität als auf das Flair der Rednerbühne. Mehrfach wich er geflissentlich von den Datierungen seiner Texte ab.

Den roten Faden von Galeanos Vortrag bildet der Antiimperialismus, in einem weiten Sinn verstanden: Es geht nicht bloß darum, die militärische und wirtschaftliche Herrschaft der USA in Frage zu stellen, sondern eine vergleichende Perspektive einzunehmen – mit den Praktiken des britischen Empires, des napoleonischen Reiches, des portugiesischen und des spanischen Kolonialreichs, aber auch des Römischen Imperiums. Der Argwohn gegenüber der Technologie (Autos inbegriffen), begleitet von der Verehrung für die präkolumbischen Traditionen, der „Lateinamerikanismus“, das Vertrauen in Denkvermögen und Gestaltungskraft als Werkzeuge wahren Fortschritts, die Vorstellung, dass „die Welt kopf steht“, und schließlich die Gewissheit, dass sich alles ins Lot bringen lässt – das macht die großen Linien von „Los hijos de los días“ aus.

Verhältnis zwischen Kirche und Macht kritisiert

Es mag unangemessen erscheinen, die Zuhörer*innen eines Schriftstellers als „Gläubige“ zu bezeichnen – eines Schriftstellers, der, genau wie bereits vor 50 Jahren, unaufhörlich die westliche Religion anzweifelt. Doch ist es nicht die Spiritualität als solche, welche Galeano auf die Anklagebank setzt, sondern das Verhältnis zwischen Kirche und Macht. Daher hat er auch kein Problem damit, sich bei Mythen – seien sie christlich oder nicht – zu bedienen, um ein Beispiel anschaulicher zu machen. In „Los hijos de los días“ gibt Galeano wieder einmal kleine Lektionen in vergleichender Religion. Diese legen den ziemlich menschlichen Charakter unserer Glaubenseinstellungen frei, halten aber auch den Wert der Hoffnung hoch.

In diesem Sinne lässt sich der letzte Text des Buchs als etwas anderes als ein Abschied lesen. Dem 31. Dezember im Kalender entsprechend, handelt es sich um einen der wenigen Einträge, bei denen das Datum keinen Bezug zur Erzählung aufweist. Hier kommentiert Galeano jenen Rat, den der römische Gelehrte Serenus Sammonicus gab, um die Unsterblichkeit zu erlangen: sich nämlich das Wort „Abracadabra“ an die Brust zu hängen, das im alten Hebräisch bedeutet: „Nähre dein Feuer bis zuletzt“.

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