48 Jahre nach dem Putsch: Militär fürchtet die Wahrheit

von Carlos Amorín

(Fortaleza, 12. April 2012, adital).- Anfang April jährte sich der Putsch des brasilianischen Militärs gegen die demokratische Links-Regierung von Präsident João Goulart zum 48. Mal. Die Militärs sollten die Macht erst 1985 wieder abgeben. Jair Krischke, der Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation Bewegung für Gerechtigkeit und Menschenrechte MDJH (Movimento de Justiça e Direitos Humanos), nimmt in einem Interview Stellung zur Aufarbeitung der Diktatur, die über ein Vierteljahrhundert nach deren Ende noch immer in den Kinderschuhen steckt.

In welchem politischen Kontext vollzieht sich ein weiterer Jahrestag des Putsches von 1964?

Das brasilianische Militär behauptet, dass der Staatsstreich – den es eine „Revolution“ nennt – am 31. März 1964 stattfand. Das stimmt aber nicht, es war der 1. April. Die Militärs sind sich offenbar nicht bewusst, dass in Brasilien der 1. April als „Tag der Lüge“ gilt, oder auch als Tag der Narren oder der Unschuldigen, wie er in anderen Ländern Lateinamerikas bekannt ist. Der abgesetzte Präsident João Goulart verließ Brasilien am 2. April, was schon beweist, dass der Putsch eben am 1. April stattfand. Wie immer wollen die Militärs die Geschichte mit Arroganz auslöschen.

In diesem Jahr verbot Präsidentin Dilma Rousseff das Abhalten jedweder Kundgebung zur Rechtfertigung des Putsches. Es fand aber ein Gedenkakt im brasilianischen Militärclub statt, der Reserve-Offiziere vereint. Erstmals demonstrierte eine Gruppe junger Brasilianer*innen vor dem Militärsitz, als die Versammlung abgehalten wurde. Die Veteranen mussten ihren Versammlungsort, von Polizei eskortiert, verlassen. Was in einigen Ländern Südamerikas seit Jahren nichts Ungewöhnliches ist, war bis dato in Brasilien noch nie geschehen. Außerdem überflog ein Militärflugzeug die Küste von Rio de Janeiro mit einem Banner, das sich auf den Putsch bezog, und einige Fallschirmspringer sprangen demonstrativ am Strand ab. Ich glaube, die Veteranen erschraken.

Warum meinen Sie, dass sie erschraken?

Nun, in Brasilien hat sich ein interessanter Wandel vollzogen. Bei der durch Gesetz geschaffenen Wahrheitskommission, von Dilma Rousseff am 18. November 2011 in ihre Arbeit eingesetzt, handelt es sich um ein wichtiges Thema auf der nationalen Agenda. Allerdings wurden bis zum heutigen Tag die Mitglieder der Kommission nicht ernannt. Doch schon allein die Tatsache ihrer Schaffung sorgte in Militärkreisen für schwere Unruhe. Das ging bis zur Verzweiflung, kann man sagen.

Erster Ausdruck dieses Gemütszustands nach außen war die Verbreitung einer kritischen Anmerkung – jedoch von Respekt getragen – über die Zustimmung zur Wahrheitskommission. Diese wurde auf der Website des Militärclubs veröffentlicht. In dem Text ist die Rede von „Revanchismus“, die Amnestie habe sich auf alle in gleichem Maße erstreckt. Es werden alle Argumente des Militärs aufgefahren, die wir bereits zur Genüge kennen.

Und was tat Dilma in dieser Situation?

Sie rief den Verteidigungsminister an und wies ihn an, den Rückzug des Textes von der Website des Militärsclubs zu befehlen, was auch sofort geschah. Die radikalsten Kräfte im Militär gaben daraufhin wutentbrannt einen neuen Text in Umlauf. Respekt gegenüber dem Verteidigungsminister und sogar gegenüber der Präsidentin: Fehlanzeige. Aber das Erstaunlichste war, dass hochrangige Offiziere, die noch im Dienst standen, mit ihrer Unterschrift Unterstützung für den Text bekundeten. Dilma verlangte nun, dass die Verfasser des Textes ebenso wie die Unterstützer direkt sanktioniert würden.

Wurden diese Sanktionen auch tatsächlich ausgeführt?

Das wissen wir noch nicht, denn diese Prozesse ziehen sich erfahrungsgemäß in die Länge. Das was am meisten beunruhigt, war aber die äußerst harte Reaktion dieser Gruppen.

Wie haben Sie persönlich den Jahrestag des Putsches erlebt?

Wir waren in Porto Alegre, wo wir am 5. Lateinamerikanischen Treffen für Wahrheit und Gerechtigkeit teilnahmen. Dieses wird von Menschenrechtsorganisationen und Organisationen Angehöriger von Opfern des Staats-Terrorismus in Südamerika veranstaltet. Am Jahrestag des Militärputsches in Brasilien fanden wir uns zu einer Gedenkveranstaltung auf der Ilha Penal („Straf-Insel“) zusammen, die im Rio Guaíba liegt, gegenüber Porto Alegre. Wir gedachten der politischen Gefangenen, die dort eingesperrt gewesen waren.

Wir erklärten, dass die Amnestie keineswegs für beide Seiten gedacht war, wie uns das Militär weismachen will. Die Amnestie war ausschließlich für sie gedacht, denn für die von Zivilisten begangenen Verbrechen gab es keine Amnestie. Dabei ist bekannt, dass die Militärs sehr viel mehr Menschen umbrachten. Geschützt wurden sie hierbei von einem System des Staats-Terrorismus. Kein einziger brasilianischer Militär hat jemals auch nur eine Minute im Gefängnis zugebracht.

48 Jahre nach dem Putsch behält das derzeitige Offizierskorps der brasilianischen Streitkräfte, das nichts mit den damaligen Ereignissen zu tun hat, diese irrige Einstellung bei. Aus einer falsch verstandenen Loyalität heraus, dabei ist Korpsgeist hier vollkommen unangebracht. Was erhoffen Sie sich von der Arbeit der Wahrheitskommission?

Grundsätzlich ist die Wahrheitskommission erst einmal sehr wichtig. Allerdings kann sie ihre Ziele nur mit ausreichend Personal erreichen: das heißt mehr als die derzeitigen sieben Beauftragten und die 14 Hilfskräfte. Es ist völlig unmöglich, die Ereignisse im Zeitraum 1946 bis 1988 mit so wenigen Leuten zu untersuchen.

Außerdem muss es sich bei den Assistent*innen um Spezialist*innen handeln, die nicht bloß lesen können, sondern auch wirklich verstehen, was sie lesen. Sie müssen sich mit der Thematik auskennen, forschen können und auch bei scheinbar langweiligen „Routine“-Texten hellwach sein. Denn gut analysierte Texte können eine Menge sagen.

Wie schätzen Sie den derzeitigen Kampf für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit in Südamerika ein?

Erstmals sind wir dabei, uns systematisch mit den Genoss*innen zu vereinen, die für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfen, um Erfahrungen auszutauschen. Uns wird dabei bewusst, dass die Geheimdienste und die Streitkräfte unserer Länder in perfekter Harmonie und Abstimmung arbeiteten. Wir müssen unsere Anstrengungen zusammenführen, um die Wahrheit herzustellen und dafür zu sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht. Das ist äußerst wichtig für uns, für unsere Geschichte und für künftige Generationen.

Ich glaube, dass wir mit jedem Treffen etwas weiter kommen. An diesem Treffen zum Beispiel nahm der argentinische Anwalt Miguel Ángel Osorio teil, der zur Operation Condor ermittelt. Er übergab mir ein sehr wichtiges Dokument zu einer kaum bekannten Geschichte.

Im März 1976, wenige Tage vor dem Putsch in Argentinien, verschwand in Buenos Aires der bekannte brasilianische Pianist Francisco Tenório Cerqueira Júnior. Einen Tag später sollte der brasilianische Dichter und Sänger Vinícius de Moraes auftreten. Am Abend davor besichtigten Toquinho und andere Musiker*innen – unter ihnen eben auch Tenório – das Theater, in dem der Auftritt stattfinden sollte. Auf dem Weg zurück zum Hotel klagte Tenório seinen Kolleg*innen gegenüber über starke Kopfschmerzen. Er werde eine Apotheke aufsuchen, um irgendein Mittel gegen Kopfschmerzen zu kaufen. Die anderen gingen also alleine zurück ins Hotel. Tenório aber sollte nie wieder auftauchen.

Ich vertrat seine Familie gegenüber der argentinischen Regierung und wir erreichten die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Allerdings wurde nie bekannt, was mit Tenório geschehen war. Der Fall wurde nie untersucht. Nun aber reichte der besagte Anwalt Osorio formal Klage bei der argentinischen Justiz ein. Eben dieses Dokument überreichte er mir in einem sehr bewegenden Moment im Rahmen unseres Treffens. Aus dem Dokument geht hervor, dass Brasilien Argentinien nie ersuchte, dem so zahlreichen Verschwinden brasilianischer Bürger*innen im Nachbarland auf den Grund zu gehen. Wird man da nicht hellhörig?

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