Zwischen Waffen und Behutsamkeit: Der Alltag der kolumbianischen Guerilla ELN

(Bogotá, 5. Dezember 2018, colombia informa).- Fortsetzung der Chronik aus den Wäldern des Chocó. Journalist*innen von Marcha, Brasil de Fato, Peoples Dispatch und Colombia Informa haben sich in das unwegsame Gelände aufgemacht, um die Frauen und Männer kennenzulernen, die in einer der ältesten Widerstandsgruppen der Welt aktiv sind.

“Ich gehöre zur Nationalen Befreiungsarmee ELN (Ejército de Liberación Nacional) und bin Teil des Kommandos Ernesto Guevara”, stellt sich Yesenia vor, eine große schlanke Frau mit schwarzer Haut und einem riesigen Lächeln, das ihre Augen strahlen lässt. Ein großer weißer Hund, der von seinem Leben beim kolumbianischen Militär befreit wurde und auf den Namen Coronel hört, ist ständig an der Seite unserer ersten Interviewpartnerin. Jetzt ist es uns erlaubt, eine Kamera und ein Aufnahmegerät bei dem Treffen im Guerillagebiet im Departement Chocó zu benutzen.

Yesenia ist ein ungewöhnlicher Name innerhalb der Guerilla. Bei meinen Nachforschungen stieß ich mehrmals auf „Die schwarze Yesenia”, die zu den Befehlshaberinnen des wichtigsten Kommandos in der Geschichte der ELN zählte und Ende 2011 im Kampf getötet wurde. Unter den „Elenos” (den Mitgliedern der ELN) ist es üblich, Pseudonyme in ehrenvoller Erinnerung an frühere Aktivist*innen auszuwählen.

Sie sei als Jugendliche der ELN beigetreten, erzählt die heute etwa 35-jährige Yesenia. Damals war sie beeindruckt von der Schönheit der Gruppe, von ihren Waffen und ihren Uniformen. Weiter ins Detail geht sie nicht. „So war das.” Stück für Stück macht sie sich mit der ideologischen Seite und dem Wertekanon des Befreiungskampfs vertraut und befasst sich mit den „zahlreichen Gründen, weshalb wir weiterkämpfen“, wie etwa die gesellschaftliche Ungleichheit in Kolumbien. Zu den wichtigsten Werten der Guerilla zählen ihr zufolge „Ehrlichkeit, Solidarität, Disziplin, eine kritische Grundhaltung… diese Werte impfen wir auch schon den jungen Leuten ein. Gegenseitige Fürsorge ist für uns essentiell.” ‚Einimpfen‘ ist geradezu wörtlich zu verstehen. Die wichtigsten Grundwerte sollen auch den Heranwachsenden in Fleisch und Blut übergehen.

Disziplin von morgens bis abends

Ständige Begleiterin im Guerilla-Alltag ist die Disziplin. Um 4:45 heißt es Aufstehen. Erst wird sich auf die Zusammenkunft der Truppe vorbereitet, dann die ELN-Hymne gesungen und anschließend bis 8:00 Uhr trainiert. Nach der Frühstückspause wird das körperliche Training bis zum Mittagessen fortgesetzt. Nach einer kurzen Pause geht es weiter mit dem Unterricht im Umgang mit Waffen, gemeinsam wird das Zerlegen und Zusammensetzen der Gewehre geübt und im Anschluss zwei Stunden lang marschiert. Zeitig wird zu Abend gegessen, wenn es noch hell ist.

Neben dem körperlichen Training gibt es auch politische Schulung. Diese beginnt nach dem Abendessen und anschließendem Geschirrspülen. Im Klassenverband oder in Diskussionsrunden wird über die Geschichte der ELN und andere Themen gesprochen, und es wird zusammen Zeitung gelesen. „Um 20h gehen alle schlafen“, erzählt Yesenia. Zusätzlich zum festgelegten Tagesablauf werden nach dem Rotationsprinzip exakt definierte Schutzschichten absolviert, um die Bewachung des Camps rund um die Uhr zu gewährleisten. Subsistenzarbeiten wie Kochen, Saubermachen und Feldarbeit werden ebenfalls unter allen Aktivist*innen gleich aufgeteilt.

ELN: Wir unterstützen die Gemeinden

Die Arbeit ist nicht allein auf das Camp beschränkt. Die Guerilla arbeitet auch mit den Gemeinden zusammen. „Das fängt bei den grundlegendsten Dingen an. Wir helfen den Leuten, die Arbeiten für die Gemeinde zu erledigen, damit sie gemeinsam arbeiten. Und wir arbeiten mit ihnen zusammen“, erzählt Yesenia. Sie unterstützen die Einwohner*innen beim Hausbau, bei der Schaffung von Gemeinschaftsflächen und dem Aufbau der Infrastruktur und orientieren sich dabei an den von der Dorfgemeinschaft aufgestellten Regeln.

Auch Yadira, eine Guerillera mit aufrechter Haltung, ernster Ausstrahlung und einem offenen Lächeln berichtet uns vom Kontakt der ELN mit der örtlichen Bevölkerung. „Es ist gut, dass wir den Gemeinden helfen und sie bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen.” Yadira ist besonders stolz auf ihre Arbeit mit den Frauen der Gemeinde. Sie wünscht sich, „dass die Frauen es schaffen, ihre Unterdrückung zu überwinden und aufhören, immer nur ihren Männern zu gehorchen.“ Feminismus sei zwar innerhalb der Guerilla kein Thema, aber Yesenia betont: „Wir verstehen uns als eine Organisation, in der die Geschlechter gleichberechtigt sind.”.

Medien: ELN vertreibt die Gemeinden

Das ist jedoch nicht das Bild, das die ELN in den kolumbianischen und internationalen Medien abgibt. Also frage ich Yadira. „In der Presse steht immer alles Mögliche, was gar nicht stimmt. Dass wir die Bevölkerung angreifen und vertreiben. Das sind alles Lügen. Wenn jemand in eine Gemeinde kommt, dann sagt er, wer er oder sie ist und spricht mit den Leuten. Niemand zwingt sie zu irgendetwas, das sie nicht wollen“, erklärt die Guerillera mit einer Mischung aus Trauer und Unbehagen.

Persönliches

In einer der Pfahlhütten spielt eine Mutter mit ihrem Baby. Sie trägt keine Uniform sondern ein leichtes Trägerkleid, der Tag war warm und schwül. Das etwa sechs Monate alte Kind trägt nur eine Windel und am Handgelenk ein rotes Armband. Cynthia, eine unserer Begleiterinnen, erkundigt sich nach dem Armband. „Zum Schutz”, lautet die Antwort der Mutter. Hier mischt sich Marxismus, die Leitideologie der ELN, mit persönlichen und religiösen Überzeugungen, was nicht wirklich verwundert. In der Guerilla werden die Priester Camilo Torres Restrepo und Manuel Pérez Martínez hochverehrt.

Es gibt auch Raum für Individualität. Das Leben bei einer Guerilla-Einheit beinhaltet zwar das Tragen der Uniform, und die Embleme der ELN sind die Symbole der kollektiven Identität. Nichtsdestotrotz tragen alle zusätzlich eigene dekorative Details als Ausdruck des persönlichen Verständnisses von Schönheit und Eitelkeit. Die Mädchen flechten sich Zöpfe und stecken sich Spangen ins Haar, die Jungs tragen verschiedene Frisuren und Mützen. Yadira erzählt uns, was sie außer den Accessoires zu ihrer persönlichen Verschönerung beim Marschieren noch dabei hat: „Mein Gewehr, meine Weste, meine Pistole und mein Gepäck: Essgeschirr, Decke, Hängematte, Zelt. Das ist die Basisausrüstung, die Leute von der Guerilla dabeihaben“. Die Waffen, Pistolen und Dolche sind ebenfalls verziert. In einem Alltag, der von grün, braun und schwarz dominiert wird, tauchen andere Farben nur im Detail auf.

Feste Regeln für Liebesbeziehungen

Da wir nun schon einmal angefangen haben, über persönliche Dinge zu sprechen, fragen wir Yadira, wie mit Liebesbeziehungen innerhalb der Guerilla umgegangen wird. Auch dafür gibt es feste Regeln. „Wenn jemand heiraten will, beginnt die dreimonatige Verlobungszeit. Hier können beide Beteiligten überlegen, ob sie zusammenbleiben wollen oder sich wieder trennen. Anschließend besprechen sie sich mit den Genossinnen und Genossen und begreifen sich als verheiratet. Wenn sie drei Jahre lang eine stabile Beziehung geführt haben, dürfen sie Kinder bekommen.”

Bei den Gesprächen, die wir zwischendurch off the record mit den jungen Leuten führen, erfahren wir, dass Kinder und ihre Beziehung zur Guerilla immer wieder Anlass zur Sorge geben. Da ist zum Beispiel das Thema Bildung. Auf dem Land gibt es sowieso kaum Schulen, und durch das häufige Umziehen der Guerilla ist es schwierig, eine kontinuierliche Schulbildung zu gewährleisten. Eine Lösung wäre, dass zivile Aktivist*innen für ein Schuljahr mit im Guerillacamp leben und dort die Kinder und die Erwachsenen sowie die Menschen aus dem Gemeinden unterrichten.

Hohe Analphabetismusrate im Chocó

Einem Bericht des Menschenrechtsbeauftragten zur humanitären Krise im Departement Chocó aus dem Jahr 2014 (Crisis Humanitaria en el Choco) zufolge liegt die Analphabetismusrate im Chocó bei 20,9 Prozent, also zweieinhalbmal so hoch wie im übrigen Land. Zum Vergleich: Das brasilianische Bundesland mit dem höchsten Anteil an Analphabet*innen ist Maranahão mit 16,7 Prozent.

Eine weitere Geschichte, die uns erzählt wird, handelt von den Weihnachtsfeiertagen: Einmal im Jahr können die Kinder der Guerilla aller Altersstufen an einem sicheren Ort auf dem Land mit ihren Eltern zusammen sein. Die Begegnungen seien nicht immer einfach, da einige Kinder ihren Eltern distanziert oder wütend gegenüberträten, weil diese getrennt von ihren Familien bei der Guerilla leben. Nach anfänglichem Fremdeln und Verunsicherung auf beiden Seiten sei das Eis jedoch durch gemeinsames Fußballspielen schnell gebrochen, und schon bald lägen sich die Familien in den Armen. Umso schwerer und schmerzhafter sei es dann, wieder Abschied voneinander nehmen zu müssen – vorübergehend oder für immer.

Um mehr über Glück und Traurigkeit innerhalb der Guerilla zu erfahren, sprechen wir mit unserem dritten Interviewpartner Emerson Valírio Martínez, der uns stolz seinen „Eleno“-Personalausweis zeigt, schwarz-rot mit drei großen weißen Buchstaben darauf: „als Symbol für soziale Gerechtigkeit und Frieden“. Wir interviewen ihn vor laufender Kamera. Die ersten Antworten klingen wie einstudiert. Als wir ihn nach dem schwierigsten Moment in seiner Zeit bei der Guerilla fragen, beginnt seine Stimme leicht zu zittern.

„Ich wurde zweimal im Kampf verwundet. Ich glaube, das war einer der schwierigsten Momente. Ich musste eineinhalb Jahre getrennt von meiner Organisation leben, um mich zu erholen, weil die Kugel mein Bein verletzt hatte. Aber egal, es gibt nichts, das man nicht überwinden kann.“ Getrennt von der Guerilla zu leben ist das, was ihm am allerschwersten fällt. Nicht nur weil das bedeutet, nicht zu kämpfen, sondern auch, weil er nicht getrennt von seinen Genossinnen und Genossen leben möchte. „Es fällt mir nicht leicht, außerhalb der Organisation, außerhalb meines Kommandos zu leben, getrennt von meinen Genossinnen und Genossen, von meiner Familie. Denn wir sind so etwas wie eine große Familie, und wir vermissen uns gegenseitig, so als wären wir wirklich Blutsverwandte“, erzählt Emerson.

Und der glücklichste Moment? „Ich glaube, das war, als ich mein Baby gesehen habe, mein einziges bisher. Und als meine Familie mich zum ersten Mal besucht hat. Ich hatte sieben Jahre lang keinen Kontakt zu ihnen gehabt, wusste überhaupt gar nichts von ihnen. Das sind die Momente, die ich immer in meinem Herzen aufbewahre.“

Lieber in der Guerilla als permanent verschuldet zu sein

Zwischen zwei Familien. So fühlt es sich anscheinend an für Emerson und sicher auch für andere aus der Guerilla. Wie erklärt man seiner Familie oder seinen Eltern, dass man sich dafür entschieden hat, für eine politische Überzeugung, für die Volksbefreiung zu leben? „Also, im Allgemeinen sind die Familien oder insbesondere die Mütter nicht damit einverstanden, dass ihre Kinder sich direkt in den Konflikt hineinbegeben. Wenn sie nicht selbst soweit politisiert sind, dass sie es als eine Notwendigkeit betrachten, für die eigenen Interessen zu kämpfen, dann fragen sie sich natürlich immer: „Wann kommt mein Kind zurück?“ oder „Es muss doch auch andere Möglichkeiten geben, bei denen sie sich nicht in Lebensgefahr bringen“.

Aber Emersons Position ist klar; er glaubt an den Weg, den er gewählt hat. Wenn man nur die Möglichkeiten hat, „sich durch den Arbeitgeber ausbeuten zu lassen, permanent verschuldet zu sein, nie etwas zu besitzen und sein Leben unter noch ärmlicheren Bedingungen zu fristen als im Widerstand, dann ist doch klar, dass man bereit ist, jedes Risiko einzugehen. Und dann gibt es ja auch noch die ideologische Überzeugung. Das ist ja allgemein bekannt, dass Armut und Elend häufig der Grund sind, warum sich Menschen dem bewaffneten Widerstand anschließen.“

Im Kriegsgebiet

Die Westfront „Omar Gómez“ ist eine der neun Kriegsfronten der ELN, die im ganzen Land verbreitet ist, einschließlich der Städte, wo der Frente de Guerra Urbana (Kommando Kampf in den Städten) aktiv ist. Innerhalb der einzelnen Fronten gibt es Guerilla-Kommandos, die für den Aufbau basisdemokratischer Strukturen arbeiten. Wir besuchten das Kommando Ernesto Che Guevara. Revolutionäre Sprüche auf T-Shirts und bunten Armbinden kennzeichnen die Zugehörigkeit zu der Gruppe, die größtenteils aus jungen Leuten besteht. Innerhalb jedes Kommandos gibt es Kompanien, die in bestimmtem Umfang selbständig agieren. Das Zentralkommando der ELN besteht aus fünf Mitgliedern, darunter Nicolás Rodríguez Bautista (Gabino), politischer und militärischer Kopf, und Israel Ramírez („Pablo Beltrán”), Leiter der ELN-Delegation am Runden Tisch der Friedensgespräche mit der kolumbianischen Regierung.

Die Westfront ist im Chocó aktiv, dem ärmsten Departement Kolumbiens. Sie ist benannt nach Omar Darío Gómez („Alejandro”), der 2016 dort getötet wurde, nachdem er über 30 Jahre bei der ELN mitgekämpft hatte. Er war der dritte Anführer dieses Kommandos.

Angriffe aus der Luft

Aufgrund der dichten Vegetation wird für Transporte auf Kanus und Motorboote zurückgegriffen. Yesenia, eine unserer Interviewpartnerinnen im Chocó, erzählt uns, dass das kolumbianische Heer für gewöhnlich aus der Luft angreift. „Sie bombardieren uns von ihren Hubschraubern aus, meist ganz plötzlich, bei Tag und bei Nacht. Das Gelände hier ist sehr unwegsam, deshalb können sie uns nicht so gut mit Bodentruppen angreifen, aber das kommt auch vor. Deshalb haben wir rund um die Uhr Wachen aufgestellt. Weil sie zu jedem unvorhergesehenen Moment angreifen können, aus der Luft oder am Boden.” Wann immer das Geräusch eines Motorboots zu hören ist, drehen alle den Kopf, um zu sehen, wer da kommt. Die typische Kopfbewegung der Menschen in der Guerilla. Die Sinne sind immer in Alarmbereitschaft.

Bei einer Gesprächsrunde, zu denen wir im Guerillacamp eingeladen werden, erfahren wir, dass die Guerilla neben den nationalen Streitkräften noch einen weiteren gefährlichen Feind hat: die paramilitärischen Gruppen. Sie agieren im Verborgenen, als Zivilisten, und sie haben die Unterstützung der Polizei und des Militärs. „Die Unterstützung der Paramilitärs ist eine politische Taktik, die dazu dient, den Widerstand kleinzuhalten. Die Paramilitärs setzen den Terror immer weiter fort”, erklärt uns ein ELN-Mitglied eines Abends während unseres Besuchs. Bei einem Gespräch in einer großen Runde mit Dutzenden von Guerilleros und Guerilleras erfahren wir Genaueres über ihre Haltung zum bewaffneten Kampf. Im Urwald ist das letzte Tageslicht dem Dunkel der Nacht gewichen, und unsere Kameras sind ausgeschaltet. Die Vorstellung, zwischen lauter Guerilla-Kämpfer*innen mit geschulterten Gewehren zu sitzen, mag Unbehagen und Beklemmung hervorrufen. Und doch war es eine ruhige und entspannte Situation – fast hätten wir vergessen, dass wir uns mitten im Kriegsgebiet befanden.

Warum den bewaffneten Kampf fortsetzen?

Sich für den revolutionären bewaffneten Kampf zu entscheiden ist nicht einfach. Die Guerilleros und Guerilleras geben ihr bisheriges Leben auf, die Familie, das Haus, und müssen sich täglich einer Reihe neuer Herausforderungen stellen. Die Camps bestehen immer nur eine begrenzte Zeit lang, deshalb sind es immer nur schlichte Hütten ohne fließendes Wasser und Kanalisation. Es gibt keine Matratzen zum Schlafen, nur ein paar einfache Haushaltsgeräte, das Allernötigste, um ein Minimum an Wohlbefinden zu garantieren.

Die Toten sind keine große Geschichte, sondern sie passieren einfach. Was die Guerilla dazu antreibt, weiterzumachen, ist die Überzeugung, dass es um eine große Sache geht, um die Befreiung des Volkes. „Deshalb macht es mich so wütend, wenn etwas passiert, wenn sie eine*n unserer Genoss*innen töten“, erklärt Yesenia. „Wenn einer von uns stirbt, sprechen sie vom ‚Tod eines Guerilleros‘. Stirbt ein Soldat, heißt es ‚Ein Soldat wurde ermordet’. Ich finde das verletzend. Wir sind alle Kinder von Landarbeitern, und wir sind alle Menschen. Dass wir bewaffnet sind und für die Rechte der Armen kämpfen, heißt nicht, dass wir weniger wert sind als die Soldaten, die für die Herrschenden kämpfen. Die Soldaten sind genauso Kinder von Landarbeitern wie wir. Deshalb ist das so verletzend“, fährt Yesenia fort.

Über 50 Jahre bewaffneter Kampf

Was zum politischen und sozialen Konflikt in Kolumbien geführt hat, der mittlerweile seit über 50 Jahren bewaffnet ausgetragen wird, „sind dieselben Punkte, gegen die sich der kolumbianische Staat am Runden Tisch bei den Verhandlungen mit den FARC gesperrt hat“, findet Emerson, einer der Anführer des Kommandos Che Guevara. Die FARC hat den Friedensvertrag in Havanna unterzeichnet, nun verhandelt der Staat mit der ELN. „Der Staat ist nicht bereit, seine wirtschaftliche, politische und soziale Praxis, das Privateigentum oder die Rolle des Militärs zu hinterfragen.” Ohne die Bereitschaft zu einer selbstkritischen Betrachtung sei jedoch klar, „dass sich die politische Führung des Landes nicht ändern wird und wir keine gesellschaftliche Gleichheit erreichen werden.“

„Überall, wo es Unterdrückung gibt, gibt es auch Widerstand“

Die Überzeugung und die Hoffnung, dass es möglich ist, die soziale Ungerechtigkeit in Kolumbien und in Lateinamerika zu beenden, treibt die „Elenos” an, den bewaffneten Kampf fortzusetzen. „Überall, wo es Unterdrückung gibt, gibt es auch Widerstand. Unsere Botschaft an das kolumbianische Volk und an unseren Kontinent ist, dass wir den Kampf auf verschiedenen Ebenen führen müssen, uns verbünden müssen, um gemeinsam die Macht der Herrschenden und den Imperialismus zu bekämpfen“, erläutert Emerson abschließend.

Unser letztes Interview führen wir mit Comandante Uriel, dem politischen und militärischen Kopf der Kriegsfront West, dessen Konterfei am häufigsten in den sozialen Netzwerken zu sehen ist, allerdings immer mit Hut und maskiert mit einem schwarz-roten Tuch, das nur seine Augen ausspart. Innerhalb des Camps bewegt er sich ausschließlich unmaskiert und begegnet uns freundlich und offen. Für den Videomitschnitt des Interviews verdeckt er sein Gesicht erneut. Wie uns die anderen Genossinnen und Genossen bereits erzählt hatten, verteidigt Uriel den bewaffneten Kampf als eine historische revolutionäre Erfahrung, eine Kombination aus politischer und organisatorischer Arbeit mit den Gemeinden. „Die ELN ist ein kolumbianisches Erbe und das Erbe des gesamten lateinamerikanischen Kontinents.“ Das gelte jedoch nicht nur für die ELN, so Uriel, sondern für viele weitere Volksbewegungen in Kolumbien und in anderen Ländern.

„Andere Organisationen wählen andere Wege, machen andere Prozesse und setzen zum jetzigen Zeitpunkt andere Schwerpunkte; das respektieren wir. Die ELN betätigt sich auch in verschiedenen Bereichen, wir beschränken uns nicht auf den bewaffneten Kampf. Aber wir finden es wichtig, dieses Saatkorn des revolutionären bewaffneten Kampfes, des bewaffneten Volkswiderstands zu pflegen. Und auch wenn dieser Weg zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorrangig ist, bin ich sicher, dass das nochmal auf uns zukommen wird.“

Sozialismus, Imperialismus, Widerstand des Volkes…

Er hält einen Vortrag über den Prozess, auf Grundlage einer geeinten Basisorganisation „die Welt zu verändern und etwas Neues aufzubauen” und fährt fort: „Der Imperialismus wird nicht von allein verschwinden. Um ihn zu besiegen, brauchen wir den energischen Widerstand des Volkes. Alles zählt, was die einzelnen Menschen und Organisationen dazu beitragen, damit die Welt eine andere wird. Genauso hoffe ich, dass auch die Bemühungen der ELN, eine andere Welt zu schaffen, wertgeschätzt werden. Es heißt, der Sozialismus ist für alle oder für niemanden. Und wie es schon auf meinem T-Shirt steht: Für den Sozialismus kämpfen heißt: für die Menschheit kämpfen.“

Obwohl er sich mit seinen Leuten inmitten des dichten Urwalds des Chocó befindet, will er die Guerilla nicht isolieren. Deshalb greift er gern auf die moderne Kommunikationstechnologie zurück. „Wir dürfen nicht in Schweigen verfallen, sondern müssen die Botschaft vom revolutionären Kampf in die Welt tragen und agitieren, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.“

Guerilla mit moderner Kommunikationstechnologie

Es scheint, als wolle er vor der Kamera an die Solidarität und Verbrüderung der militanten Volksbewegungen und Organisationen appellieren und sie bitten, die ELN nicht allein zu lassen. „Wir sind hier, zu allem bereit und hoffen auf zahlreiche Unterstützung von außen. Hier sind alle willkommen, die mitmachen wollen, die lernen wollen, was wir ihnen zeigen können, und die uns helfen, unsere Verbindungen nach außen zu stärken. Wir sind offen für alle, die mit uns erfahren wollen, was Zusammenarbeit und bedingungslose Freundschaft bedeutet, und was es heißt, Verbündete zu sein und zusammen zu kämpfen.“

Während unserer Unterhaltung fragt er uns spontan zur Situation in Brasilien, zu Nachrichten aus anderen Teilen der Welt und zu unserer Meinung, nicht nur zu politischen Fragen. Immer wieder tauchen auch andere Themen in unseren Gesprächen auf: Geschichte, Technik, Spielfilme, TV-Serien, Musik. Er steht auf Rap, und ab und zu singt er uns etwas vor. Comandante Uriel bittet uns, in unserem Bericht nicht auszusparen, wie freundlich und zuvorkommend wir im Gebiet der „Elenos” empfangen wurden.

Speicherkarte zum Abschied

Zu den Abschiedsgeschenken von Uriel und seiner Partnerin Lucía gehört neben vielen bunten Armbändern mit Che-Guevara-Zitaten, T-Shirts und anderen Deko-Gegenständen, die auf die Guerilla-Identität verweisen, auch eine Speicherkarte mit mehr Informationen: Texte, Videos, Fotos, Zeitungsausschnitte und ein ganzes Archiv mit verschiedenem Material, das Comandante Uriel in den letzten Jahren gesammelt hat. Am meisten ist es die Musik, die mich an die Zeit erinnert, die wir zusammen verbracht haben. Besonders „Hasta siempre” zu Ehren von Che Guevara wurde in den Pausen oft gespielt, am häufigsten in verschiedenen Rap-Versionen.

Aber das Stück, das mich mental zurückbringt zu den Männern und Frauen in den Wäldern des Chocó, ist eins, das Teile eines Gedichts von Mario Benedetti enthält: „Der Mann, der in den Himmel blickt”. In der Rap-Version heißt es: „Nie soll der Schmerz uns die Wut nehmen, unsere Kraft, den Spaß am Leben, die Leidenschaft. Die Mörder des Volkes sollen verschwinden. Auf dass die Liebe und die Revolution weiterleben!” („Del Amor Y La Lucha“ von Mentenguerra). Ich verabschiede mich schnell, mit einer kurzen Umarmung von allen, die gekommen sind. Hinter mir liegen intensive Tage voller Emotionen und neuer Eindrücke. Ich sehe in ihre Augen, sage: „Auf Wiedersehen“ und weiß dabei, dass es kein Wiedersehen geben wird.

Erst im Boot auf dem Fluss San Juan scheine ich langsam zu verstehen, was mir passiert ist: Ich sehe mich um, das Brummen des Motors und das Tosen des Windes im Ohr, dazu eine Cumbia, die irgendwo aus dem Radio zu uns herüber weht. Ich betrachte die Pfahlhütten und schaue in die Gesichter der Menschen am Ufer. Indígenas, Schwarze, Kinder, alte Menschen, Familien, vertieft in ihre alltäglichen Tätigkeiten: Wäsche waschen, baden, im Fluss spielen. Den festen Blick, den ich ihnen zuwerfe, werfen sie mir zurück. In manchen Augen sehe ich Tränen. Ich verstehe nun, was dieser Kampf bedeutet…

An einer der Haltepunkte zieht ein Schwarm gelber Schmetterlinge seine Kreise. Ich betrachte sie lächelnd und denke: „Ich habe das tiefe Innere Kolumbiens kennengelernt.“

*Reportage: Vivian Fernandes. Journalistin, Brasil de Fato.
*Fotos und Vídeos: Gustavo Roque und Jorge Dalton

Den ersten Teil dieser Reportage findet ihr hier.

CC BY-SA 4.0 Zwischen Waffen und Behutsamkeit: Der Alltag der kolumbianischen Guerilla ELN von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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