Unter Beibehaltung der Amnestie

von Andrea Martínez

(Montevideo, 28. Oktober 2010, la diaria).- Der brasilianische Senat hat grünes Licht für eine Wahrheitskommission gegeben. Jetzt fehlt nur noch die Unterschrift von Dilma Rousseff. Es ist die erste staatliche Initiative, die ans Licht bringen soll, was während der Diktatur von 1964 bis 1985 geschehen ist und welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Doch viele Menschenrechtsverteidiger*innen und Angehörige von Opfern sind der Ansicht, dass die Bildung dieser Wahrheitskommission kaum bedeutsame Resultate zu Tage befördern und damit allerdings die Tür zu anderen derartigen Initiativen zugeschlagen wird.

Wahrheitskommission ohne Handhabe

Zwei Jahre lang sollen sieben von Präsidentin Dilma Rousseff ausgewählte Personen die Anzeigen zu Menschenrechtsverletzungen zwischen 1946 und 1988 einsehen, untersuchen, analysieren und ihre Schlussfolgerungen daraus veröffentlichen. Es sollen sieben Personen, die „allgemein aufgrund ihrer ethischen Haltung als geeignet angesehen werden und sich mit der Verteidigung der Demokratie und den Menschenrechten identifizieren“, die Wahrheitskommission im fünftgrößten Land der Erde bilden, in dem mehr als 200 Mio. Einwohner leben.

Offiziell geht man derzeit von 475 Verschwundenen und Ermordeten während der Diktatur aus. Eine der Aufgaben der Kommission wird es sein, diese und andere Opferzahlen zu bestätigen und, soweit möglich, herauszufinden, wer die Verantwortlichen für diese Verbrechen sind. Man muss sagen, „soweit möglich“, denn die Kommission wird keine Möglichkeiten haben, Personen zu Zeugenaussagen zu zwingen ‒ sie darf sie lediglich “einladen”. Es werden ihr auch keine Mittel an die Hand gegeben um sich zu versichern, dass die Befragten die Wahrheit sagen, noch wird die Kommission Druck ausüben können, damit Befragte nicht lügen. Denn die Kommission hat keine rechtliche Handhabe. Sie wird die Verantwortlichen auch nicht vor Gericht bringen können, denn im April 2010 vom Obersten Gerichtshof unterzeichnete Amnestiegesetz bleibt in Kraft.

Offene Wunde

Die Aufgabe der Kommission besteht laut dem am späten Abend des 26. Oktober einstimmig im Senat verabschiedeten Projektes darin, „das Recht auf Erinnerung und die historische Wahrheit zu garantieren und die nationale Aussöhnung zu fördern.“ Sie hat nicht das Ziel, diejenigen zu verurteilen, die gegen Menschenrechte verstoßen haben, sondern eine „offizielle Version“ über das Geschehene zu erarbeiten ‒ und das nicht nur für die 21 Jahre der Diktatur, sondern für den in der Initiative festgelegten Zeitraum von 42 Jahren.

Der Oppositionelle Aloysio Nunes war der Berichterstatter des Projekts, das nach der Zustimmung in der Abgeordnetenkammer als dringlich in den Senat eingebracht wurde. Nunes war Mitglied der Guerrillagruppe Freiheitliche Nationale Allianz (Alianza Libertadora Nacional), die zur Finanzierung des bewaffneten Kampfes Überfälle ausführte. Bis zur Einführung des Amnestiegesetzes von 1979, das zu einer Löschung der gegen ihn ausstehenden Haftbefehle führte, lebte er im Exil. Der Senator versicherte, dass „Die Kommission nur legitimiert sei, wenn sie ihren Fokus auf die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverbrechen lege.“ Nach der Verabschiedung des Projekts erklärte er, dass die durch die Diktatur geschlagene Wunde „sich nie schließen wird, egal wie das Ergebnis ausfällt.“

Rousseff wird Mitglieder im Dezember benennen

Das Projekt liegt jetzt in den Händen von Rousseff, einer ehemaligen Guerillera, die selbst zwei Jahre aus politischen Gründen inhaftiert war. Es wird erwartet, dass sie die Kommissionsmitglieder am 10. Dezember bekannt gibt, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, so die Tageszeitung „Folha de São Paulo“. Nach ihrer Ernennung soll die Kommission binnen sechs Monaten einen Arbeitsplan erstellen. Erst danach beginnt die zweijährige Laufzeit des Projekts Wahrheitskommission.

Brasilianische Medien versichern, dass Rousseff ihren engsten Beratern bereits im September mitteilte, dass sie schon bestimmte Personen im Auge habe, die in Frage kämen. Namen nannte sie nicht. Demnach soll die Kommission aus einem Kirchenvertreter, einem konservativen Politiker, einem Künstler, mindestens zwei Intellektuellen (einem aus der politischen Mitte sowie einem Linken), einem seit langem aktiven Menschenrechtsverteidiger sowie einem Juristen bestehen.


Weiterlesen:

Ohne Öffnung der Diktatur-Archive keine vollständige Wahrheit | Interview mit Marlon Alberto Weichert | Von IHU – Unisinos Instituto Humanitas Unisinos | in poonal 962 | September 2011

 

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