Sexuelle Vielfalt zwischen Desinformation und Stigma

von Dixie Edith

(Lima, 19. September 2011, semlac).- Auch heute leiden Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans-Personen in Kuba unter Diskriminierung und Ausgrenzung. Für die Angehörigen der LGBT-Community sind Aufklärung, ein verbesserter Informationsfluss und die Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins essentiell, um in diesem gesellschaftlichen Klima bestehen zu können.

Eine kürzlich erschienene Untersuchung, die im etwa 250 km von Havanna entfernten Cienfuegos durchgeführt wurde, macht die Bedeutung von Information und Aufklärung deutlich und beschreibt darüber hinaus, welche Konflikte im Leben der kubanischen LGBT-Personen vorherrschen.

Studie am Beispiel Cienfuegos

Für seine Abschlussarbeit im Studienfach Sozialwissenschaften hatte der Psychologe Alain Darcout Rodríguez das Thema „Sexuelle Vielfalt: Informationspolitik, Meinungen, Wertungen und Praxis in der Provinz Cienfuegos“ gewählt. Bei seinen Untersuchungen wurde deutlich, dass insbesondere innerhalb der heterosexuellen Bevölkerung und bis zu einem gewissen Grad auch in der LGBT-Community Desinformation, Vorurteile und Irrtümer im Zusammenhang mit Lebensformen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, vorherrschen.

Die Studie wurde zwischen September 2010 und März 2011 in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten durchgeführt. Es wurden etwa 50 Personen befragt, davon etwa 20 heterosexuelle Jugendliche und Erwachsene beider Geschlechter, sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle und transidentifizierte Personen.

Wie die Studie ergab, sind jüngere heterosexuelle Erwachsene generell besser über das Konzept sexueller Vielfalt informiert und mit den Begrifflichkeiten vertraut und zeigen sich eher bereit, andere Lebensformen zu akzeptieren. Trotz der insgesamt positiveren und von mehr Verständnis getragenen Haltung gegenüber der freien Wahl der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität bestehen jedoch auch in der jüngeren Generation Kenntnismangel und überaltete Sichtweisen.

Fehleinschätzungen und Vorurteile

Hinsichtlich der kursierenden Fehleinschätzungen zu sexueller Vielfalt und Geschlechteridentität sei hier eine verbreitete Position zu Bisexualität genannt. Statt als Orientierung werde diese nämlich oft als Orientierungslosigkeit, als Unfähigkeit, sich festzulegen oder sogar als sexuelle Perversion wahrgenommen, so Darcout. Verbreitet seien darüber hinaus auch mit Tabus und falschen Vorstellungen aufgeladene Positionen, die nichts mit einem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu tun hätten: Viele dieser Grundhaltungen “gründen sich auf Vorurteile, persönliche oder Gruppenerfahrungen oder rühren aus der eigenen geschlechtlichen Konditionierung oder einer sexistisch geprägten Erziehung her. Diese wiederum ist die Folge eines gesellschaftlichen Drucks, der darum bemüht ist, die heterosexistische Hegemonie zu erhalten”, heißt es in der Studie. Derlei Positionen fänden ihren Ausdruck in homophoben Diskursen und Verhaltensweisen mehr oder weniger subtiler Art bis hin zu Gewaltakten, zu beobachten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise am Arbeitsplatz oder in der Schule.

Aus dem Job gedrängt

Diese Erfahrung hat auch die aus der Provinz Cienfuegos stammende Soziologin Tania Tocoronte gemacht. So erklärte die Gründerin der seit 2008 bestehenden Initiative Fénix, ein Zusammenschluss lesbischer und bisexueller Frauen: „Mir ist es mehrmals so gegangen, dass ich verschiedene Jobs aufgeben musste, die mir wichtig waren; und zwar nicht, weil meine Kolleginnen und Kollegen mich nicht akzeptiert hätten, sondern es waren die Entscheidungsträger*innen in meiner Provinz, die mich in bestimmten Positionen nicht haben wollten“, so Tocoronte in einer öffentlichen Debatte, die im Rahmen der Reihe Sexuelle Vielfalt bei SEMlac publiziert wurde.

2008 wurde in Cienfuegos zum ersten Mal der Internationale Tag gegen Homophobie begangen, nachdem dieser im Jahr zuvor landesweit eingeführt worden war. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten hat dieser Tag nun regelmäßig sein festes Datum im Mai und wird von verschiedenen Organisationen und Institutionen unterstützt. Im selben Jahr wurde die Initiative Fénix ins Leben gerufen; im Dezember 2010 gründeten Männer unterschiedlicher sexueller Orientierungen, darunter überwiegend Schwule und Bisexuelle, einen Diskussions- und Aktionskreis, und im Mai 2011 schlossen sich Transpersonen, teilweise mit Partner*innen und Familienangehörigen, in einer Initiative zusammen. Zwar wurde in den Medien einfühlsam über diese Bewegungen berichtet, nach Meinung Darcouts ist dies jedoch noch nicht genug.

Besonders verbreitet: der Wunsch, anonym zu bleiben

Wie Darcout in seiner Untersuchung nachweist, entscheiden sich viele LGBT-Personen angesichts des gesellschaftlichen Klimas dafür, ihre sexuelle Orientierung zu verstecken, um Diskriminierungen zu entgehen. Diesen Eindruck gewannen auch die SEMlac-Journalist*innen bei einem Rundgang durch das Nachtleben der Provinzhauptstadt im vergangenen Juli: Fünf modisch gekleidete Jugendliche, offensichtlich in Feierlaune und mit alkoholischen Getränken in der Hand, waren gerade dabei, die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Touristen auf sich zu ziehen, die in der Nähe des bekannten Hotels Jagua flanierte. Als unsere Journalist*innen sich den Jugendlichen näherten, reagierten diese zunächst unentschlossen, willigten dann aber ein, ein paar Fragen zu beantworten, allerdings unter der Voraussetzung, dass ihre Namen nicht genannt und keine Fotos gemacht würden.

„Ich wohne nicht in dieser Stadt. Meine Eltern denken, ich bin bei einem Freund und mache dort ein paar Tage Urlaub. Wenn sie rauskriegen, dass ich schwul bin und was mit Touristen habe, bringen sie mich um“, erklärt einer der Jungen, der uns nach langem Drängen sein Alter nennt: 16 Jahre. „Warum soll ich den Leuten etwas erzählen, was sie sowieso nicht verstehen und weswegen sie mich außerdem auch noch ablehnen werden?“, meint ein anderer, der sich als bisexuell definiert. „Ich habe eine Freundin in dem Viertel, wo ich wohne, das ist weit weg von hier, ich studiere, und alles läuft gut. Ich komme hierher zum Malecón, um ein bißchen Spaß zu haben, aber das braucht niemand zu wissen“, fügt er hinzu.

Jugendliche leben sich woanders aus

Diese Aussagen unterstreichen eins der Ergebnisse, die auch Darcout in seiner Studie herausgearbeitet hat. „Um mit der Diskriminierung und Stigmatisierung umzugehen, verlassen viele der homosexuellen und bisexuellen Jugendlichen der Provinz den Stadtteil oder Ort in dem sie wohnen, um diesen Teil ihrer Identität auszuleben, während sie zu Hause ein konventionelles heterosexuelles Leben führen“, erklärt der Psychologe gegenüber SEMlac. So sei es umso schwieriger, diesen Personenkreis zu unterstützen oder sie mit Informationen zu versorgen, denn wenn sie sich selbst nicht outen, sei es komplizierter, an sie heranzukommen.

Einer Umfrage über Möglichkeiten zur HIV-/Aids-Prävention aus dem Jahr 2009 zufolge, die vom Studienzentrum Bevölkerung und Entwicklung CEPDE (Centro de Estudios de Población y Desarrollo) vom Nationalbüro für Statistik und Information ONEI (Oficina Nacional de Estadísticas e Información) durchgeführt wurde, gaben nur 3,2 Prozent der befragten Männer an, in ihrem Leben sexuellen Kontakt mit einem anderen Mann gehabt zu haben, während der Landesdurchschnitt bei 7,6 Prozent liegt. Hierin sieht Darcout ein Indiz für ein homophobes Klima, denn „es besteht die Tendenz, die eigenen Neigungen nicht zuzugeben, weil sonst mit Diskriminierung und Ausgrenzung gerechnet werden muss.“

Anstieg sexuell übertragbarer Krankheiten

Im Zuge seiner Untersuchung fand der Psychologe heraus, dass – vor allem von Männern – häufig sexuell riskante Beziehungen eingegangen werden, so zum Beispiel sexuelle Tauschgeschäfte (Sex gegen Bezahlung oder Gefälligkeiten), die in wesentlichem Maße für die Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten und damit auch für das Ansteigen der HIV- und Aidserkrankungen verantwortlich seien. In der Provinz Cienfuegos hat die HIV-Infektionsrate, die auch als die „Pandemie des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wird, in den letzten fünf Jahren erheblich zugenommen.

Laut einer Erhebung im Rahmen des Programms sexuell übertragbare Krankheiten/HIV/AIDS zur Beobachtung von Epidemien, die vom Zentrum für Hygiene und Epidemien der Provinz durchgeführt wurde, wurden im Jahr 2005 acht Neuinfektionen pro Halbjahr registriert, im Jahr 2010 waren es bereits 58, die meisten Übertragungen hatten durch sexuellen Kontakt zwischen Männern stattgefunden. Insgesamt stellen sexuelle Praktiken zwischen Männern mit 82,5 Prozent die häufigste Ursache für die Infektion mit einer sexuell übertragbaren Krankheit dar.

Bessere Informationen und mehr Akzeptanz notwendig

Sowohl Tocoronte als auch Darcout sind der Überzeugung, dass ein verbesserter Informationsfluss und die Akzeptanz der eigenen Identität zwingend notwendig sind, damit sich die Lebenssituation von LGBT-Personen verbessert. Die in der Stadt Cumanayagua tätige Journalistin und Gesundheitsberaterin der Provinz Cienfuegos, Marta Rosa Castillo, sprach sich in der digitalen Ausgabe des Kulturmagazins Calle B dafür aus, das Thema sexuelle Vielfalt aus einem kulturellen Blickwinkel zu betrachten, um in der Bevölkerung ein breiteres Verständnis zu schaffen und den Menschen die Möglichkeit zu geben, soziologische und zwischenmenschliche Aspekte einzubeziehen. So könne man der Diskriminierung, Ausgrenzung und Ablehnung entgegenwirken und die aus der Zurückweisung resultierenden Verletzungen minimieren.

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