„Die Regierung ist umkämpft“ – Interview mit Kintto Lucas

von Ana Molina

(Montevideo, 25. September 2008, recosur).- Heute wird in Ecuador per Referendum über eine neue Verfassung abgestimmt. Der uruguayisch-ecuadorianische Schriftsteller und Journalist Kintto Lucas hat in der Verfassunggebenden Versammlung an der Entstehung des Verfassungstextes mitgewirkt.

Ana Molina: Manche sagen, die Regierung unter Rafael Correa würde bestimmte ökonomische Gruppen bevorzugen und die Entstehung einer neuen Bourgeoisie fördern. Was denken sie darüber? Kintto Lucas: In der Regierung gibt es Teile, die eindeutig der Rechten zuzuordnen sind. Sie versuchen, die politische und ökonomische Situation gemäß ihrer Interessen zu beeinflussen, hemmen den Prozess des Wandels und versuchen, ein Politikmodell zu stärken, in dem bestimmte neue Gruppen Hegemonie erlangen sollen. Die derzeitigen Kräfteverhältnisse bevorzugen diese Gruppe innerhalb der Regierung. Sie haben es geschafft, den Präsidenten sozusagen zu belagern, auch wenn der kein Kind ist, dass sich so einfach einhegen lässt. Auf der anderen Seite gibt es Leute in der Regierung mit einem wirklich transformatorischem Denken, es gibt progressive Leute, die es sich aber nur auf ihrem Posten bequem machen und ihren Platz verteidigen, und nicht im Sinne des Wandels arbeiten und es gibt Opportunisten. Innerhalb der Regierung gibt es also Auseinandersetzungen, es gibt einen Begriff des Wandels, der umkämpft ist. Es gibt ein Feld der Auseinandersetzungen und es wird um die Kräfteverhältnisse gerungen. Im Moment übt die traditionelle Oligarchie und Rechte von außen auf die Regierung Druck aus, damit im Referendum das „Nein“ gewinnt und innerhalb der Regierung übt die neue Rechte Druck aus, um ihr Verständnis des Wandels durchzusetzen. Sowohl die einen als auch die anderen arbeiten dafür, die Regierung nach rechts zu drängen. Ein „Ja“ im Referendum sollte also sowohl die populären Sektoren in der Bevölkerung als auch in der Regierung stärken. Wenn das nicht passiert, wird es zwischen ihnen zu einem großen Riss kommen. Auf jeden Fall ist ein „Ja“ nur ein erster Schritt, danach geht es darum, um jedes einzelne Gesetz zu kämpfen. Mir würde es wie vielen gefallen, dass es, falls das „Ja“ triumphiert, danach zu Ministerwechseln käme und so die Regierung ihren Kurs nach Links unterstreicht. Zudem sollte der Präsident damit beginnen, die Beziehungen zu den sozialen Bewegungen, insbesondere den indigenen Bewegungen, zu stärken. Das hängt aber nicht nur von Correa ab, alle müssen dafür kämpfen. Nach dem Referendum wird der Präsident keine Zeit mehr haben für ambivalente Haltungen.

Ana Molina: Ist es denn möglich, die Regierung unter Druck zu setzen, wenn man gleichzeitig Angst davor hat, damit auch der Rechten in die Hände zu spielen?

Kintto Lucas: Diese Geschichte glaube ich nicht. Man spielt der Rechten außerhalb der Regierung nicht in die Hände, wenn die Kritik und der Druck ehrlich sind und von der Basis kommen. Ich bin mit der Regierung und der Rechten in der Regierung sehr kritisch gewesen, habe aber auch die Interessen der Rechten außerhalb der Regierung angegriffen. Man muss klar haben, dass diese beiden Rechten ähnliche Interessen verteidigen. Wenn sie sehen, es wird notwendig, sich zusammenzutun, dann werden sie das tun. Die Zerstörung der alten Oligarchie und der alten Rechten ist ein Schritt des Wandels. Wichtig ist, dass sich der populäre Sektor Ecuadors dieses Wandels bemächtigen und ihm seinen Stempel aufdrücken kann. Das gilt auch für die Verfassung. Wenn der populäre Sektor sie nicht wie ein Werkzeug nutzt, um einen Transformationsprozess zu festigen, dann ist sie nicht viel Wert. In der neuen Verfassung existiert ein Recht auf Widerstand. Wenn man Gesetze verabschieden will, die den Interessen der Menschen entgegen stehen, dann hat das Volk das Recht darauf, gegenüber jeder Regierung Widerstand zu leisten. Jetzt ist es wichtig, die Verfassung weiter zu verbreiten und klar zu machen: der Weg endet hier nicht, er ist noch ein bisschen länger. Es wäre unverantwortlich, zu sagen, schon diese Verfassung leitet eine Revolution ein, aber genauso unverantwortlich wäre es, sich gegen die Verfassung zu stellen, nur, um sich gegen die Regierung zu stellen oder weil man mit einigen Aktionen der Regierung nicht zufrieden ist.

Ana Molina: Welche Bedeutung hat das Referendum?

Kintto Lucas: Ecuador, wie ein großer Teil von Südamerika, durchlebt eine Zeit des Wandels und jede solche Zeit vertieft die politischen, sozialen und ökonomischen Widersprüche. Würde das nicht passieren, könnten wir nicht von einer Zeit des Wandels sprechen. Diese Zeit fand einen wichtigen Ausdruck in der Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung, die eine fortschrittliche, transformierende Verfassung vorgelegt hat, die bei weitem nicht revolutionär ist, obwohl sie doch mit dem vorherigen Modell bricht. Wenn jetzt das Volk sich diese Verfassung aneignet und Druck aufbaut, damit die danach verabschiedeten Gesetze den Gedanken des Verfassungstextes entsprechen, dann können wir sagen, es gibt einen wirklichen Wandel und nicht nur einen Austausch der herrschenden Gruppen.

Ana Molina: Sie saßen als Berater selbst in der Verfassunggebenden Versammlung, in der Kommission für Souveränität, internationale Beziehungen und lateinamerikanische Integration. Sie haben die Verfassungsartikel über territoriale Souveränität, internationale Beziehungen und Integration verfasst. Sie wissen also, was sich innerhalb der Versammlung abspielte. Hat es mit dem Vorwurf, die Verfassung sei ein Betrug, sie sei von spanischen Beratern gemacht, etwas auf sich? Kintto Lucas: Wenn diese Verfassung ein Betrug wäre, würde ich nicht für sie eintreten. Diese Verfassung ist eine würdige Verfassung, viele Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung haben wichtige Grundsätze verteidigt. Es stimmt, die Kommission, die den endgültigen Wortlaut festgeschrieben hat, hat einige Textteile verändert. Meiner Meinung nach hätte sie das so nicht tun sollen. Ich hoffe, es lag nur an der „Unfähigkeit“ der entsprechenden Leute, nicht an bösem Willen. Aber auch mit all den Änderungen ist die neue Verfassung um ein vielfaches besser als die, die aktuell in Kraft ist. Die neue Verfassung kann viele Erfolge vorweisen und es gibt gute Gründe, mit „Ja“ für sie zu stimmen: die Grundsätze von Plurinationalität und Interkulturalität, die kollektiven Rechte, der Wiedergewinn der Souveränität, der Umweltschutz, das Konzept der Ernährungssicherheit, die klare Aussage für die lateinamerikanische Integration, die neuen Rechte der Migranten, der Respekt für die Diversität, die solidarische Ökonomie, kostenlose Schulbildung etc.

Ana Molina: Und die Frage nach den spanischen Beratern?

Kintto Lucas: Von Anfang an war klar, dass spanische Berater am Verfassungsgebungsprozess beteiligt waren, das hat man nie verheimlicht. Es ist auch an sich nichts schlimmes. Früher wurden die Regierungen permanent von Vertretern des Internationalen Währungsfonds beraten, aber das haben die, die sich heute über die spanische Beteiligung aufregen, damals nie kritisiert. Was aber in jedem Fall nicht stimmt: Diese spanischen Leute haben nicht die Verfassung gemacht, nicht mal einen Teil davon. Auch wenn es nichts schlimmes bedeutete, war ich immer gegen diese Beratertätigkeit, weil sie meiner Meinung nach nicht viel half, denn die Leute kannten das Land nicht. Spanien ist eine Sache, aber Ecuador ist dann doch ein bisschen anders. Ich habe die Leute ertragen, so lange sie nicht störten. Wenn diese Leute heute sagen, sie hätten Artikel der Verfassung zu verantworten, dann sind das Geschichten. In unserer Arbeitsgruppe haben sie nicht ein einziges Wort zum Verfassungstext beigetragen.

Ana Molina: Sie waren gegenüber einigen Artikeln der Verfassung sehr kritisch. Ist es also nicht ein Widerspruch, für die Verfassung zu stimmen?

Kintto Lucas: Ich bin immer sehr kritisch, wenn etwas schlecht gemacht wird oder den Interessen der Leute widerspricht. Es ist nicht möglich, der Amnistie von Ex-Präsident Gustavo Noboa Beifall zu zollen oder dem Agrarmandat der Verfassung, das, in aller Kürze gesagt, sich gegen das Konzept der Ernährungssicherheit richtet. Aber all das widerspricht sich nicht damit, die Verfassung zu verteidigen, ganz im Gegenteil. Gerade weil wir solche Sachen ändern müssen, sind die Werkzeuge, die uns die neue Verfassung an die Hand gibt, wichtig. Einmal angenommen, wird Präsident Correa nicht umhin können, den Wandel zu vertiefen.

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