Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 349 vom 14. August 1998

Inhalt


HAITI

Haiti, Mittags

PUERTO RICO

MEXIKO

GUATEMALA

KOLUMBIEN

ARGENTINIEN

BRASILIEN

CHILE

URUGUAY

ECUADOR

BOLIVIEN

PERU


HAITI

Mord an katholischem Priester

(Port-au-Prince/Wiesbaden, 11. August 1998; haiti info-POONAL).- Der katholische Priester Jean Pierre-Louis, Pfarrer in Bizoton, wurde am 3. August von Unbekannten vor dem Büro des Ökumenischen Entwicklungs- und Bildungszentrums (CEDEP) ermordet. Der Priester war ein enger Vertrauter des 1994 ermordeten Priesters Jean-Marie Vincent. Beide gehörten dem engagiertesten Flügel des Basiskirche an. Staatspräsident Préval, die haitianische Abteilung von Justitia et Pax sowie die Aristide-Stiftung haben ihr Entsetzen und ihre Trauer angesichts dieses Mordes zum Ausdruck gebracht. Die Vereinigung der haitianischen Menschenrechtsorganisationen forderte in dem Zusammenhang von der Regierung konkrete Maßnahmen gegen ehemalige Militärs und Mitglieder der Todesschwadronen zu ergreifen, die weiterhin bewaffnet im Untergrund agieren. Die derzeitige Haltungg der Regierung diesbezüglich bedeute faktische Straffreiheit. Auch die katholische Jugendorganisation (JEC) verurteilte den Mord als politisches Verbrechen.

Die Partei OPL hat seitens der Polizei eine ebenso rasche wie gründliche Aufklärung gefordert. Der Lavalas-Clan, die Partei von Expräsident Jean- Bertrand Aristide, hat am 7. August eine breite Mobilisierung gegen die zunehmende Umsicherheit im Land verlangt. Anette Auguste rief die Bevölkerung auf, nach dem Vorbild der Jahre 1986-90, Sicherheitsbrigaden zu gründen. Pater Yvon Massacre forderte die Herausgabe der Mitgliederlisten der Terrororganisation FRAPH, damit die haitianische Justiz besser ermitteln kann. Die entsprechenden Unterlagen befinden sich immer noch unter Verschluß in der US-Botschaft in Port-au-Prince.

Literarischer Zündstoff: Die Enthüllungen von Raoul Peck

(Port-au-Prince/Wiesbaden, 11. August 1998, haiti info-POONAL).- Der haitianische Filmemacher und ehemalige Kultusminister Raoul Peck hat am 7. August in Port-au-Prince sein Buch: „Monsieur le Ministre… Jusqu'au bout de la patience“ vorgestellt. Darin geht Peck streng mit den einheimischen Politiker*innen und Intellektuellen ins Gericht. Anhand zahlreicher Anekdoten schildert Peck die Atmosphäre während der MinisterInnenkonferenzen, den Umgang mit den Mitarbeiter*innen sowie das subtile Machtspiel der unabhängigen Gruppen untereinander. Und er beschreibt auch die Kluft , die zwischen den real ausgetragenen Machtkämpfen und den Gesetzen des Landes existiert.

Im Namen der Ordnung – Ratifizierung des Premierministers weiterhin verzögert

(Port-au-Prince/Wiesbaden, 4. August 1998, haiti info-Poonal).- Der von Präsident Préval vorgeschlagene Kandidat für den Posten des Premierministers, der derzeitige Bildungsminister Jacques Edouard Alexis, ist von den beiden Parlamentskammern noch nicht ratifiziert worden. Bevor die Abgeordneten und Senatoren sich mit der Kandidatur auseinandersetzen können, musß Alexis fuuur seine Amtsführung als Minister entlastet werden. Die für diesen Vorgang gebildete Kommission hat sich bisher nur eine Teilentlastung für das Haushaltsjahr 1996/97 ausgesprochen. Das Jahr 1997/98 ende erst im September, so die Kommissionsmitglieder.

Diese Entscheidung wurde in Abgeordentenkreisen kritisiert und als Verzögerungstaktik gewertet. Der Vorsitzende des haitianischen Rechnungshofes erklärte jedoch, das Verfahren könne nicht beschleunigt werden. Die Konten des Ministierium müßten ordnungsgemäß überprüft werden. Vor Mitte August könne kein vorläufiger Bericht über Alexis Amtsführung verfaßt werden.

Verschiedene Basisorganisationen aus Gonaives haben mit Mobilisierungen gedroht, wenn der Bildungsminister nicht bald als Premier bestätigt werde. Sie forderten die Parlamentarier*innen auf, das Verfahren zu beschleunigen. Das Land müsse endlich aus der doppelten Krise in Parlament und Regierung herausfinden. Die Gruppe Mouvement Resistance Jubil Blanc drohte mit Blockaden, falls Jacques Edouard Alexis von den Abgeordneten abgelehnt werde. die Organisation Populaire Democratique de Raboteau befürchtet große soziale Unruhen in den Slums von Gonaives, falls der Kandidat nicht ratifiziert wird. Und die Mouvement des Organisations Democratiques Le Canal bat die Parlamentarier*innen, die Krise nicht mehr zu personalisieren. Hier handle es sich nicht um die Person von Alexis, sondern um ein Land, das am Rande des Ruins stehe und schnelles Handeln benötige.

Comeback von Baby Doc?

(Port-au-Prince/Wiesbaden, 4. August 1998, haiti info-POONAL).- Emmanuel Constant, Gründer und Vorsitzender der Terrororganisation „Front für den Haitianischen Fortschritt“ (FRAPH), berüchtigt durch den Putsch gegen Präsident Aristide, hat aus seinem us-amerikanischen Exil über geheime Treffen von FRAPH- Mitgliedern im In- und Ausland berichtet. Hauptgegenstand dieser Treffen sei die geplante Rückkehr des früheren Diktators Jean-Claude Duvalier. Ehemalige Militärs und Abgeordnete, die den Putsch von 1991 befürworten, sollen bei den Vorbereitungen helfen.

Constant machte diese Angaben in einem Interview mit dem US-Magazin „Emerge“. Er wiederholte auch frühere Erklärungen, denen zufolge der US-Geheimdienst CIA nicht über seine – Constants – gesamten Aktivitäten in Haiti orientiert gewesen sei, sondern ihm darüberhinaus auch monatlich 700 US-Dollar überwiesen habe. Einem internen CIA-Bericht zufolge hatten Constant und die beiden Putschgeneräle Cédras und Biamby den damaligen Justizminister Guy Malary ermorden lassen. Constant wurde im vergangenen Jahr in den USA verhaftet und wieder freigelassen. Bisher fordert Haitit vergeblich seine Auslieferung.

Haiti, Mittags

Von Eduardo Galeano

Christus, schwarz, mit Brille fährt einen Kleinbus. Die heruntergekommenen, bis zum Dach hin brechend vollen Busse bahnen sich einen Weg durch die Menge. Alle tausendfach mit Farben verziert und alle haben einen Namen. Sie heißen „Geduld“, Erniedriegung“, drangsal“ und „Verrückheit“. Mit dem Schritt einer Königin geht eine Frau daher. Sie trägt einen randvoll mit Wasser gefüllten Eimer auf dem Kopf und ein Huhn unter dem Arm, ihr Einsatz für die Lotterie. Ein Mann zieht am Halsstrick eine Ziege hinter sich her, die er den aus Afrika gekommenen Göttern opfern wird. Die Götter irren umher, unter die Menschenmenge gemischt, die kommt und geht, einsteigt und aussteigt, in einem unendlichen gewühl. Hier hat niemand Arbei, aber alle sind sehr beschäftigt. Es gibt kein Essen, aber es kommen mehr Leute vor Lachen um als vor Hunger.

Es ist Mittag und die Hähne kündigen den Tagesanbruch an. Es gibt zwei Sonnen am Himmel und drei Augen in den Gesichtern. Das Licht schreit, die Luft schwirrt. So viele Lichter hat die Luft, daß sich niemals ein Regenbogen herauswagt, um keine Scham zu fühlen. Häuser ohne Mauern, Autos ohne Türen, Kinder ohne Schuhe, Tumult ohne Straßen. dem Meer gegenüber, an den Hängen der Berge, die Klauen des Teufels im Luafe von fünf Jahrhunderten zerkratzt haben, das ist Port-au-Prince. Diese Stadt, dieser Müll, diese Schönheit, ein Extrem, wo das Leben sich betäubt und vergißt, wie kurz es dauert und wieviel es schmerzt.

PUERTO RICO

US-Banner bald ohne den puertoricanischen Stern?

(Mexiko-Stadt, 12. August 1998, Poonal).- Das Entkolonialisierungskomitee der Vereinten Nationen hat eine von Kuba eingebrachte Resolution verabschiedet, in der das Recht Puerto Ricos auf Selbtsbestimmung und Unabhängigkeit bekräftigt wird. In der Erklärung wird der koloniale Charakter des Landes anerkannt und die USA aufgefordert, das Recht der Bewohner*innen auf Selbstbestimmung zu garantieren. Die Befürworter*innen der Unabhängigkeit Puerto Ricos werten die Verabschiedung der Resolution als einen politischen Triumph für Lateinamerika.

MEXIKO

Neue Guerilla in Guerrero – Abspaltung von der EPR

Von Gerold Schmidt

(Mexiko-Stadt, 11. August 1998, Poonal).- Mehrere Presseberichte über eine Spaltung der Guerilla im Bundesstaat Guerrero seit Anfang dieses Jahres fanden jetzt ihre Bestätigung durch die Aufständischen selbst. Bei einem geheimen Treffen mit mehreren Medienvertreter*innen präsentierten die Comandantes „Antonio“ und „Santiago“ ihre Organisation, die Revolutionären Streitkräfte des aufständischen Volkes (ERPI). Die ERPI trennten sich nach eigenen Angaben und der Presse zugegangenen Information wegen strategischer und politischer Differenzen von der Revolutionären Volksarmee (EPR).

Die beiden Comandantes bestätigten Berichte, nach denen es Mitglieder ihrer Organisation und Zivilisten waren, die bei einem Gefecht mit der Bundesarmee am 7. Juni in der guerrensischen Ortschaft El Charco ums Leben kamen. Sie bekräftigten die von der kritischen Presse dargestellte Version, nach der es sich um ein geplantes Massaker der offiziellen Streitkräfte und nicht um eine offene Konfrontation handelte. Das Treffen zwischen Guerilla und Dorfbevölkerung sei verraten worden. Die ERPI-Vertreter kündigten an, „die Schuldigen zu bestrafen“.

Die neue bewaffnete Organisation nimmt für sich in Anspruch, weniger hierachisch als die EPR zu sein und mehr auf die Meinung der Bevölkerung, besonders der Indígenas hören zu wollen. Ihre Aussagen lassen regelmäßige Attacken auf Militär- und Polizeieinheiten erwarten. In den Wochen nach dem Gefecht in El Charco hat es bereits mehrere solcher Angriffe gegeben, die der ERPI zugeschrieben werden. Offenbar ist fast die gesamte Struktur der EPR im Bundesstaat Guerrero zur ERPI übergelaufen. Nach allgemeiner Einschätzung hatte die Revolutionäre Volksarmee in Guerrero die meisten Mitglieder. Dort führte sie auch einen Großteil ihrer bewaffneten und propagandistischen Aktionen durch.

In dem Gespräch mit der Presse wie auch in einem vor wenigen Wochen bekannt gewordenen Dokument versucht die neue Bewegung, den Streit mit der EPR herunterzuspielen. Zwar sei die Trennung notwendig gewesen, doch wird eine Zusammenarbeit für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Bezüglich der aufständischen Zapatisten im Bundesstaat Chiapas leugnete der Comandante Antonio jegliche direkte Verbindung. Während die EZLN vorrangig eine politische Antwort gebe, bestehe die Reaktion der ERPI auf die soziale Lage in bewaffneter Selbstverteidigung und Feindseligkeiten gegen die Bundesarmee. Allerdings begrüßte Antonio die „wichtigen Beiträge“ der Zapatisten für den politischen Kampf. In diesem Sinne könne voneiner Annäherung gesprochen werden.

Der Comandante nahm ebenso positiv Bezug auf die zapatistischen Losungen „gehorchend regieren“ und „für alle alles, für uns nichts“. Beide ERPI-Vertreter begrüßten die jüngst von der EZLN in der V. Erklärung aus dem Lacandonen-Urwald angekündigte landesweite Befragung der Bevölkerung über ein Gesetz zu Indígenarechten und -Kultur. Sie ließen verlauten, in ihrem im wesentlichen auf Guerrero beschränkten Einflußgebiet die Befragung zu fördern. Beide Comandantes gaben ihrer Überzeugung Ausdruck, daß in anderen Teilen Mexiko weitere Guerillagruppen existieren bzw. gebildet werden.

Mexiko übernimmt Führungsposition bei Menschenrechtsverletzungen

(Mexiko-Stadt, 7. August 1998, pulsar-Poonal).-Die Vereinten Nationen haben Mexiko auf den ersten Platz einer Liste von Ländern gesetzt, in denen die Menschenrechte der Ursprungsbevölkerung und der nationalen Minderheiten verletzt werden. Die UNO-Expertin in Indígena-Fragen, Erica Irene Daas, bezeichnete außerdem die Sorge der UNO-Kommissarin Mary Robinson angesichts der Situation in Chiapas als „zutreffend“. Sie bat die mexikanische Regierung, die angekündigte Friedensstrategie für Chiapas effektiv umzusetzen und die Menschenrechte und Freiheit überall im Land zu beachten. Die Berichte und Zeugnisse von Indígena-Gruppen sowie nationaler und internationaler Nicht- Regierungsorganisationen zeigten einen alarmierenden Rückgang der Menschenrechte in Chiapas. Auf der UNO-Liste von Ländern in denen systematische menschenrechtsverletzungen verübt werden, steht Mexiko vor der Türkei und Zypern.

GUATEMALA

Kirche kritisiert kriminelle Ermittlungsmethoden

(Guatemala, 12. August 1998, alc-POONAL).- Die guatemaltekischen Bischöfe haben ein Komuniqué herausgegeben, in dem die Art kritisiert wird, in der die Untersuchungen im Fall der Ermordung von Bischof Juan Gerardi am 26. April diesen Jahres geführt werden. Wörtlich heißt es unter anderem: „Wir drücken unsere Unzufriedenheit über den Widerstand aus, den politischen Konnotationen des Falles Rechnung zu tragen sowie die mutmaßlich verwickelten Militär und Ex- militärs gründlich zu überprüfen.“ Des weitern führten die Bischöfe aus, die Nachforschungen hätten „Sorgen, Verdächtigungen Zweifel und Fragen unter den Gläubigen und Bevölkerung insgesamt“ausgelöst. „Wir weisen erneut auf unsere unwiderrufliche Verpflichtung gegenüber Wahrheit und Gerechtigkeit hin, egal wer dadurch betroffen wird, denn ein Rechtsstaat hat in unserem Land eine Chance, wenn er sich auf diese Grundlagen stützt“, so die Bischofskonferenz. Nach dem Hinweis auf die schlampige Beweissicherung am Tatort protestiert die katholische Kirche auch gegen die „aufwendige Mobiliserung der Sicherheitskräfte bei den Festnahmen des Priesters Mario Orantes und Margarita Lopez“. Der legale Charakter dieses Vorgehens sei zweifelhaft. Die Kirche verwehre sich nicht grundsätzlich agegen, daß ein Priester belangt würde, doch müßten dann die Indizien, auf die sich diese Anklage stützt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Bei den von Bischöfen erwähnten Militärs handelt es sich um den Hauptmann Byron Lima Oliva und seinen Vater, einen Oberst im Ruhestand. Ihre Namen sind vom erzbischöflichen Menschenrechtsbüro und der Abgeordneten Nineth Montenegro vom „Demokratischen Bündnis Neues Guatemala“ (FDNG) ins Spiel gebracht worden. das Auto der beiden Militärs war am 26. April in der Nähe des tatorts gesichtet worden. Es ist auch die Rede von vier weiteren Komplizen aus den Reihen der Streitkräfte. Gemäß der Version der Tageszeitung „Prensa libre“ hatte Byron Lima den Auftrag, das Originaldokument des kirchlichen Berichts über die im 36jährigen internen Krieg begangenen Verbrechen zu stehlen. der bericht war von einer Kommission unter der Leitung Bischof Gerardis ausgearbeitet worden und belastet die Streitkräft sehr. Bei dem Versuch das Belastungsmaterial zu entwenden sei überraschend Gerardi aufgetaucht und deswegen von Lima umgebracht worden, so die Presse-Version des Tathergangs. Der Offizier verließ Guatemala vier Tage nach dem Mord und ist seitdem nicht wieder ins Land zurückgekehrt. (Zum Hintergrund des Komuniqués vgl. auch die Poonalausgaben der vergangenen Wochen.

Hausangestellte müssen sich sonntags organisieren

(Guatemala-Stadt, Juli 1998, cerigua-Poonal).- Jeden Sonntag treffen sich im zentralen Park von Guatemala-Stadt hunderte von Hausangestellten mit Freunden, Verwandten und Familienangehörigen. Dies ist eigentlich ihr einzig freier Tag in der Woche. Überwiegend handelt es sich dabei um junge Maya-Frauen, die auf der Suche nach einem Lebensunterhalt vom Land in die Hauptstadt gekommen sind.

Einige von ihnen nehmen an diesem beliebten Treffpunkt auch an den Workshops der kirchlichen Organisation „Conrad de la Cruz“ teil. Die Vereinigung will den jungen Mädchen – meist noch im Teenageralter – helfen, stolz auf ihre Herkunft zu sein und ihre Rechte gegenüber den Arbeitgebern zu verteidigen. Denn diese sind nicht selten davon überzeugt, völlige Kontrolle über das Leben ihrer Angestellten ausüben zu dürfen.

„Wenn ein vierzehnjähriges Mädchen mit ihrer ganzen Naivität, ihrer eigenen Weltsicht und Sprache hier ankommt und einen Job sucht, dann hat sie große Kommunikationsprobleme. Aus dieser Situation ziehen viele einen Vorteil und legen die Grundlage für ein sklavenähnliches Arbeitsverhältnis“, sagt Pater Julian Oyales, Leiter von „Conrad de la Cruz“. Er erklärt: „Der Hausherr des jungen Mädchens wird den Lohn festlegen, die Arbeit, die Arbeitszeit, den Tag, an dem sie außer Haus gehen darf und wohin sie gehen darf. Sogar, welche Sprache sie innerhalb des Hauses zu sprechen hat und wie sie sich kleiden muß.“.

Für Oyales ist nachvollziehbar, warum die Arbeitgeber sich fast immer nach Belieben durchsetzen können. Die Mädchen sind von der schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Lage im guatemaltekischen Landesinnern gezeichnet. Sie tragen die Narben von Armut, fehlenden Chancen, ungleicher Landverteilung. Dazu kommen die körperlichen, materiellen und seelischen Nachwirkungen, die der erst Ende 1996 beendete interne Krieg zwischen Guerilla und Regierung hinterlassen hat.

Olga Hernandez, die als Erzieherin bei „Conrad de la Cruz“ mitarbeitet, kann eine nahezu endlose Liste von Mißbräuchen und Formen unwürdiger Behandlungen aufzählen, denen die jungen Maya-Frauen in der Hauptstadt ausgesetzt sind. Oft müssen die Mädchen zusammen mit den Haustieren in einem Zimmer oder auch nur einem Verschlag schlafen. Das Essen, was für die Herrschaft vorbereitet wird, dürfen sie selber selten anrühren. Für sie gibt es eine billigere Diät, bzw. die Abfälle vom Herrschaftstisch. Bei Krankheit können die Hausangestellten nicht damit rechnen, medizinisch versorgt zu werden. „Stattdessen werden sie in einem solchen Fall gerne auch mal vom Hausherrn entlassen „, weiß Hernandez.

Das Telephon zu benutzen, ihre Muttersprache, d.h. eine Mayasprache, zu sprechen oder gar eine Ausbildung weiterzuverfolgen, ist den meisten Mädchen verboten. Ein 14- bis 15stündiger Arbeitstag ohne zusätzliche Bezahlung sei dagegen gewöhnlich, so die Mitarbeiterin der Hilfsorganisation. Was Olga Hernandez schildert, deckt sich genau mit den Erfahrungen, die die guatemaltekische Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu, selbst eine Mayafrau, vor gut 15 Jahren in ihrer von der Journalistin Elisabeth Burgos niedergeschriebenen Biographie wiedergab.

Menchu mußte nach der Ermordung ihrer Eltern durch die Armee als junges Mädchen vom Land in die Hauptstadt fliehen und eine Zeit ang durch die Arbeit in fremden Häusern ihr Leben verdienen. Sie berichtet in ihrem Buch von häufiger sexueller Belästigung, der sie und andere Hausangestellte ausgesetzt waren. Der Hausherr oder seine Söhne sahen die jungen Mädchen oft als Freiwild an. Auch wenn Hernandez diesen Angriff gegen die Würde der Frauen nicht erwähnt, so ist es kein Geheimnis, daß er heute genauso vorkommt wie zu den Zeiten, die die Friedensnobelpreisträgerin beschreibt.

Das Team von „Conrad de la Cruz“ versucht, etwas gegen diese Zustände zu unternehmen. Es sind fast ausschließlich selber junge Mayafrauen, die den Hausangestellten bei den sonntäglichen Treffen Mittel an die Hand geben wollen, sich selbst mehr zu schätzen und das Selbstbewußtsein zu stärken. Dabei werden morgendliche Handarbeitskurse, die einen Bezug auf die kulturellen Traditionen der Mayas haben, mit Gesprächen kombiniert, in denen die Frauen ihren Gedanken, Meinungen und Träumen Ausdruck geben können. Nachmittags bietet die Organisation Kurse in Arbeitsrecht an. Mädchen, die schon länger in der Stadt sind, teilen ihre Erfahrungen mit den Neuankömmlingen.

„Die Hausangestellten und Fabrikarbeiterinnen, die an dem Programm teilnehmen, wissen, daß sie gut von ihren Arbeitgebern behandelt werden sollten. Sie wissen daß Arbeitszeiten respektiert werden müßten, daß sie ein Recht auf bestimmte Leistungen, Ferien, usw. haben“, heißt es in einer Erklärung von „Conrad de la Cruz“. Die Organisation ist optimistisch, daß die jungen Frauen besser gerüstet sind: „Sie haben gelernt, zu verhandeln, um ihre Rechte zu verteidigen.“.

KOLUMBIEN

Neues Gesicht im Friedensprozeß

(Bogotá, 10. August 1998, pulsar-Poonal).- Víctor Ricardo heißt der Friedensbeauftragte der Regierung von Andrés Pastrana. Bei seiner Amtseinführung erklärte Ricardo, der Frieden werde nicht per Dekret erlassen, alle Kolumbianer*innen müßten daran mitarbeiten. Er kündigte an, einen Friedensministerrat zu bilden. Zum Vorschlag der Guerilla-Organisation FARC, Gefangene in den Händen der Aufständischen gegen politische Häftlinge auszutauschen, äußerte sich der Beauftragte vorsichtig. Dies sei eines der Themen, die genauer untersucht werden müßten. Angesprochen auf das Angebot von Präsident Pastrana, für dieGespräche mit der Guerilla Gebiete zu entmilitarisieren, versicherte Ricardo, die Friedensangebote des Präsidenten würden eingelöst. Gleichermaßen bekräftigte er, daß die paramilitärischen Gruppen nicht an den Verhandlungsgesprächen mit der Guerilla teilnehmen würden.

Netz der Gewalt – Who's who der kolumbianischen Paramilitärs

Von Blanca Diego

(Bogotá, August 1998, npl).- Kolumbien gerät immer wieder als Schauplatz der Gewalt in die Schlagzeilen. Neben Auseinandersetzungen zwischen Armee und linksgerichteter Guerilla sind es zunehmend paramilitärische Gruppen, die durch Massaker an der Zivilbevölkerung von sich reden machen. Von Morden, Verschleppungen und Folterungen, denen im Jahr 1997 in Kolumbien fast 1.300 Menschen zum Opfer gefallen sind, gehen laut Angaben des Menschenrechtskomittees 80 Prozent auf das Konto der Paramilitärs.

Umstritten ist nun, ob auch diese Gruppen in die vor kurzem eingeleiteten Friedensverhandlungen einbezogen werden sollen. Vertreter der Guerilla weigern sich, die rechtsgerichteten Paramilitärs als dritte Verhandlungspartei anzuerkennen.

Wer verbirgt sich hinter diesen paramilitärischen Gruppen? Sie selbst nennen sich „zivile Selbstverteidigungsgruppen“, für die Bevölkerung sind sie die kolumbianische Version der Todesschwadronen, die man aus El Salvador oder Guatemala kennt.

Die Zahl der schwerbewaffneten Männer, die in kleinen Gruppen vorwiegend in ländlichen Gebieten operieren, wird auf knapp 10.000 geschätzt. Die kolumbianische Zeitschrift „Cambio 16“ veröffentlichte kürzlich Teile eines Berichtes des US-Außenministeriums, in dem die Verbindung der Paramilitärs zu den Drogenkartellen aufgedeckt wird. Angeheuert, die Kokainplantagen zu schützen, erhielten sie Geld und Waffen von den Drogenhändlern. Der Anführer der Paramilitärs, Carlos Castaño, ist dem Bericht zufolge selbst einer der Drahtzieher des Kokainhandels. Washington wirft der kolumbianischen Regierung vor, keine ausreichenden Maßnahmen gegen die Gewalt der Paramilitärs ergriffen zu haben. Oftmals seien die Verbrechen verschleiert worden, und in einigen Fällen sei sogar eine aktive Zusammenarbeit zwischen Armee und paramilitärischen Gruppen zu Erkennen gewesen.

Bewaffnete Zivilisten, die für Staat und Militär die schmutzige Arbeit leisten, sind in Kolumbien nichts Neues. Einer der Ursprünge ist in der Schwadron „Tod den Entführern“ zu suchen: Auftragskiller, die Anfang der achtziger Jahre von Drogenbossen angeheuert worden waren, um ihre Familien vor Entführungen zu schützen. Sie wurden später dazu eingesetzt, Bauern von ihrem Land zu vertreiben, um Platz für den Kokainanbau zuerhalten. Eine weitere Keimzelle der Paramilitärs sind die sogenannten „Anti-Terroreinheiten“, die in den sechziger Jahren von der Armee zur Bekämpfung der Guerilla eingerichtet worden waren.

Der Politikwissenschaftler Alejandro Reyes geht davon aus, daß es weiterhin eine enge Allianz zwischen Armee und Paramilitärs gibt. Die Verbrechen dieser bewaffneten Gruppen würden von staatlicher Seite in Kauf genommen, da sie „billige Handlanger zur Befriedung des Landesinneren“ darstellten.

Das Menschenrechtskomittee geht davon aus, daß bereits rund 450 Gemeinden von Paramilitärs kontrolliert werden. Zeugen berichteten immer wieder über ein ähnliches Vorgehen: die maskierten Männer dringen mit vorgehaltenen Maschinenpistolen in die Dörfer ein und verlesen Namenslisten mutmaßlicher Guerilla-Sympathisanten. Die betreffenden Personen würden dann vor den Augen der Dorfbevölkerung hingerichtet. Oftmals werde willkürlich auf Dorfbewohner geschossen, auch sei es zu Vergewaltigungen gekommen.

Obwohl die Übergriffe zumeist in Gebieten mit hoher Militärpräsenz stattfinden, ist es noch nie zu Auseinandersetzungen zwischen Armee und Paramilitärs gekommen. Dies festigt den Verdacht, daß es sich um abgesprochene Aktionen handelt. „Da sie die Guerilla nicht zu fassen bekommen, setzt die Armee die Zivilbevölkerung den Todesschwadronen aus“, meint ein exilierter kolumbianischer Menschenrechtler, der aus Furcht vor Attentaten anonym bleiben möchte.

ARGENTINIEN

Aus unmittelbar nach dem Startschuß

(Buenos Aires, 10. August 1998, pulsar-Poonal).- Acht von zehn Journalist*innen in Argentinien glauben, daß die Meinungsfreiheit in ihrem Land durch wirtschaftliche Interessen gefährdet ist. Die kürzlich erfolgte Schließung der Tageszeitung „Perfil“ scheint diese Auffassung zu bekräftigen. Die Zeitung, gerade einmal drei Monate auf dem Markt, sollte innerhab von zwei Jahren zum wichtigsten Kommunikationsmedium im Pressebereich aufgebaut werden. Jetzt sind 300 Beschäftigte ohne Arbeit. Sie halten derzeit die Zeitung besetzt. Die Geschäftsleitung begründete das vorzeitige Aus mit den niedrigen Verkaufszahlen. Die Angestellten dagegen glauben, die Unternehmensgruppe Citicorp Equitiy Investment habe eine entscheidende Rolle gespielt und Druck ausgeübt. In dem Konzern ist argentinisches und ausländisches Kapital vertreten, größter Aktionär ist die Citibank aus den USA. Der Herausgeber von „Perfilf“ präsentierte sich stolz als unabhängig, doch nach einer Sitzung mit dem Vorstand von Citicorp gab er den Journalist*innen die Weisung, keine Kritik an dem Konsortium zu publizieren. Citicorp spielt eine wichtige Rolle in der argentinischen Medienbranche. Die Gruppe ist nicht nur Hauptaktionärin bei „Telefónica Argentina“, sondern kontrolliert auch einen breiten Bereich des Satelliten- und Kabelfernsehens sowie des Rundfunks und der Printmedien.

80 Jahre Universitätsreform –

Argentinisches Bildungssystem war Vorbild für den gesamten Kontinent

Von Victor Sukup

(Buenos Aires, 9. August 1998, npl).- „Die Universitäten dürfen nicht rückständig wie abgelegene Inseln bleiben. Sie müssen ihre Pforten offenhalten, damit neue Ideen entstehen können“. So äußerte sich der argentinische Gelehrte Ramon Carcano im Jahre 1918. Er drückte damit die Ziele einer Reformbewegung aus, deren Einfluß in ganz Lateinamerika zu spüren sein sollte.

In diesem Sommer feiert die Stadt Cordoba, im zentralen Teil Argentiniens, den 80. Jahrestag einer Studentenbewegung, die oft mit dem Pariser Frühling 1968 verglichen wird. Weit über die ursprünglichen Ziele hinausgehend, hat die Reform von 1918 Argentinien, aber auch anderen Ländern der Region ein neues Gesicht gegeben. Nicht nur wurden – ebenso wie 1968 – die Universitäten modernisiert und demokratisiert, die gesamte Gesellschaft erlebte einen Sprung ins 20. Jahrhundert.

Freie Bildung für alle, die Beteiligung der Studenten an der Verwaltung sowie die Unabhängigkeit der Universitäten von Ordensvätern und Gouverneuren waren die Ziele, die die Studenten auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Bis zu 20.000 Menschen demonstrierten 1918 in der Stadt Cordoba, deren Universität 1613 als eine der ersten des Kontinents gegründet worden war. Der liberale Präsident Hipolito Yrigoyen kam ihren Forderungen entgegen. In einem umfassenden Bildungsgesetz wurde die Autonomie der Universitäten und ihre dreifache Kontrolle durch Lehrpersonal, Absolventen und Studenten niedergelegt. Der kostenlose Zugang zu höherer Bildung wurde zum Prinzip erhoben.

„Mein Sohn, der Doktor“ wurde zum Motto von Millionen Einwanderern, die in den dreißiger und vierziger Jahren meist aus tiefster Armut von Italien und Spanien, aus Ost- und Mitteleuropa oder gar aus Armenien, Syrien und Japan ins Land kamen. Tatsächlich ging der Traum für viele in Erfüllung: Die Söhne, und seit Mitte des Jahrhunderts auch zunehmend die Töchter, wurden oft zu „Doktoren“ bzw. „Doktorinnen“, und noch heute ist es für Europäer erstaunlich, wie viele Anwälte, Ärzte, Ingenieure und Architekten in Argentinien aus den bescheidensten sozialen Schichten stammen. Das Bildungsniveau ist dabei durchaus mit demuropäischer Länder vergleichbar. Die bislang einzigen drei lateinamerikanischen Nobelpreisträger in Naturwissenschaften sind Argentinier*. Bemerkenswert ist auch der hohe Anteil der weiblichen Studierenden und Diplomierten. In vielen Fächern bilden Frauen heute sogar die Mehrheit.

Die Universitäten gelten in Argentinien, ebenso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, als Keimzellen fortschrittlichen Denkens. Nicht ohne Grund hatten die Universitäten mit den verschiedenen autoritären Regimen der letzten Jahrzehnte große Probleme. Razzien und Durchsuchungen gehörten in den siebziger Jahren zur Tagesordnung. Die Fächer Soziologie und Psychologie wurden von vielen Universitäten verbannt, mehrfach kam es zu Bücherverbrennungen. Autoren wie Marx, Freud oder Paulo Freire im Bücherregal galten als Anzeichen subversiver Haltungen, die die Buchbesitzer das Leben kosten konnten.

In der 70er Jahren kamen in Argentinien Hunderttausende ins Gefängnis oder gingen ins Exil, darunter ein Großteil der Intellektuellen. Entsprechend heftig war der Widerstand der Studenten gegen die Militärregimes, und bei der Wiederkehr demokratischer Institutionen Mitte der achtziger Jahre spielten die Universitäten eine bedeutende Rolle. Die Forderungen der Reformer von 1918 sind indes weiterhin aktuell. Schon der Massenexodus qualifizierter Akademiker während der Diktaturen war eine Katastrophe für das argentinische Bildungssystem. Heute kommen die drastischen Einsparungen im Bildungssektor hinzu, die das Prinzip der „freien Bildung für alle“ auszuhöhlen drohen.

Wenn heute die argentinischen Studenten auf die Straße gehen, dann protestieren sie gegen die Einführung von Studiengebühren. Auch in Argentinien zeichnet sich eine Zweiteilung des Bildungssystems ab, wie sie in vielen anderen Ländern bereits besteht: Teure Privatuniversitäten mit hohem Prestige, daneben staatliche Hochschulen, deren Absolventen kaum Berufschancen haben. Zum achtzigsten Geburtstag der Studienreform von Cordoba eine traurige Perspektive.

(* Nach dem Wissen der Poonal-Redaktion ist dies nicht ganz richtig. Seit wenigen Jahren gibt es mit dem Mexikaner Molina, der den Chemienobelpreis für seine Forschungen über das Ozonloch erhielt, mindest einen vierten lateinamerikanischen Preisträger in den Naturwissenschaften. Molina ist inzwischen US-Bürger, hat aber stets betont, daß seine Ausbildung an der Autonomen Nationaluniversität Mexikos UNAM maßgebend für seine weitere Karriere war.)

BRASILIEN

Energische Töne der katholischen Kirche im Wahlkampf

(Indaiatuba/Brasilia, 12. August 1998, alc-Poonal).- Die katholische KircheBrasiliens hat ein Dokument mit dem Titel „Brief an das brasilianische Volk“ veröffentlicht. Darin verlangt sie von den Präsidentschaftskandidaten tiefgehende soziale Reformen. Die neoliberale Politik, die „den Konsumismus, den Individualismus und die Armut förden“, müßten durch eine „neue wirtschaftliche, politische und soziale Ordnung ersetzt werden, die ein würdiges Leben für die Bevölkerung garantiert“.

Bereits zu Beginn der von der Kirche organisierten „Sozialen Brasilianischen Woche“ in Indaibatuba, Bundesstaat Sao Paulo, hatte die katholische Bischofskonferenz (CNBB) einen Text veröffentlicht, in dem Arbeitslosigkeit gegenüber der Konzentration immensen Reichtums in wenigen Händen als die wichtigsten sozialen Schulden des Landes erwähnt werden. Die CNBB wiederholte ebenso ihre Forderung nach einer Agrarreform. Bischof Antonio Possanai erklärte gegenüber der Tageszeitung „O Estado de Sao Paulo“, das aktuelle Wirtschaftssystem „beruht auf einer Währung und der Stabilität dieser Währung, aber es vergißt die Marginalisierten“. Nach Meinung des Bischofs „brauchen wir eine Regierung, die auf den Menschen sieht“. Auf den Veranstaltungen der Sozialen Woche nahm die Kritik am herrschenden Wirtschaftssystem in Brasilien und dem Verhalten der Regierung breiten Raum ein.

CHILE

Interview: Wachstum allein macht nicht glücklich

(Santiago de Chile, 27. Juli 1998, alai-Poonal).- „Trotz des wirtschaftlichen Wachstums scheint die Gesellschaft nicht mit sich selbst zufrieden zu sein… Und dieses Unbehagen hat viel damit zu tun, daß sie ihre Schulden mit der Vergangenheit nicht angemessen beglichen hat“, meint Dr. José Bengoa, UNO- Sonderberichterstatter zu den Themen Armut und Menschenrechten. Als chilenischer Staatsbürger, nimmt Bengoa auch zu den Widersprüchen des Wirtschaftsmodells in seinem Land und der Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik Stellung. Das Interview führte Eduardo Tamayo.

Wie interpretieren Sie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in Chile in einem Moment, in dem der Wirtschaft ein gutes Zeugnis ausgestellt wird?

Die chilenische Ökonomie ist im Wachstum des Sozialproduktes ausgedrückt in den vergangenen 14 Jahren sehr günstig verlaufen. Seit 1987 gibt es sogar ein durchschnittliches Wachstum von 6,3 Prozent. In den vergangenen 10 Jahren hat sich das Sozialprodukt verdoppelt, zweifellos etwas Wichtiges. Diese Zahlen, die sich sicher in der Gesellschaft und im Leben der Chilenen niedergeschlagen haben, werden von anderen Zahlen begleitet, die nicht so vielversprechend sind. Vor allem bei der Einkommensverteilung.

Die zentrale Problematik im heutigen Chile ist diesem Widerspruch geschuldet: hohe Wachstumszahlen mit einer zwar nicht regressiven, aber doch ungleichgewichtigen Einkommensverteilung. Das produziert innerhalb der Bevölkerung eine sehr komplizierte Situation. Ein Teil hat offenbar Lebensbedingungen, die denen in den entwickelten Ländern völlig gleichen, während andere Bevölkerungsgruppen unter den Bedingungen der unterentwickelsten Länder der Welt lebt. Diese schlechte Einkommensverteilung ist ein kritischer Punkt innerhalb der chilenischen Gesellschaft.

Welchen Niederschlag findet dies bei den Ärmsten?

Das drückt sich in unterschiedlichsten Formen aus: in einer Jugend, die weder von der Politik noch der Demokratie viel erwartet, fehlende soziale Integration, Kriminalität. Beide Phänomene, das hohe Wachstum und die schlechte Verteilung bedeuten einen Angriff auf die Integration der Gesellschaft.

Wie kann diese Lage überwunden werden?

Meiner Meinung nach wird die große Herausforderung der Regierung darin bestehen, passende Instrumente zu finden, um mehr soziale Gleichheit im Land zu erreichen. Wie kann beispielsweise der Kampf gegen die Armut angestachelt werden? 1990, am Anfang der demokratischen Regierungen, wurde von 5 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze in Chile gesprochen. In der ersten Amtszeit von 1990 bis 1994 senkte sich diese Zahl in bedeutendem Umfang aus drei Millionen Personen unterhalb der Armutsgrenze. Doch jedes Jahr wird es immer schwieriger, daß weitere Menschen dieses Armutsniveau verlassen. Die Arbeit wird immer härter.

Eine der Gefahren des chilenischen Wirtschaftswachstums ist es, daß eine ständige Gruppe von zwei, drei oder vier Millionen Personen existiert, die in Armut oder an der Grenze zur Armut lebt. Das ist kein sehr aufmunterndes Panorama. Eine Situation fehlender Solidarität, von Ungerechtigkeit, von 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung, die nicht an diesem Wachstum teilhat.

Ist ein politischer Wechsel notwendig?

Ich weiß nicht, ob ein Politikwechsel, aber sicherlich ein neuer Plan, ein neuer Anstoß für Wirtschaftsmaßnahmen, die nicht nur auf das Wachstum des Sozialprodukts, sondern auf seine Verteilung gerichtet sind.

Das Wachstum in Chile ist Ergebnis von durchgesetzten autoritären Maßnahmen in der Politik.

Handelt es sich um ein Erbe der Diktatur?

Da ist etwas dran. In dem Sinne, daß Chile im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern den tiefgehenden Deregulierungsaktionen, den sehr schnellen Privatisierungen, der völligen Handelsöffnung mit aller Gewalt unterzogen wurde. Die strukturellen Anpassungen, die die Länder Ende der 80er Jahre machen mußten, fanden in Chile in den 70er Jahren statt.

Wie schwer wiegen die Überbleibsel der Diktatur für die Konsolidierung einer authentischen Demokratie?

Sie wiegen ganz enorm. Trotz des wirtschaftlichen Wachstums scheint die Gesellschaft nicht mit sich selbst zufrieden zu sein. Es gibt ein großes Unbehagen der chilenischen Gesellschaft mit sich selbst. Und dieses Unbehagen hat viel damit zu tun, ihre Schulden mit der Vergangenheit nicht angemessen beglichen zu haben.

Die Präsenz von Pinochet im Senat, die autoritären, ängstlichen zivil- militärischen Beziehungen, haben dazu geführt und führen dazu, daß die chilenische Gesellschaft immer noch nicht aus der Situation einer überwachten Demokratie herauskommt. Vielleicht können deswegen die zuvor erwähnten Phänomene der Ungleichheit nicht gelöst werden.

Wenn Sie mich über die Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik in Chile fragen, dann ist das meiner Meinung nach eine sehr enge. Die Nicht-Lösung der Verteilungsprobleme hat auch sehr viel mit der Nicht-Bewältigung auf politischer und kultureller Ebene unserer Vergangenheit und der autoritären Gegenwart zu tun. Zum Glück ist dies heute das meistdiskutierte Thema in Chile und in der Regierungskoalition. Es ist ein Thema, das quer durch die politischen Parteien geht, mit unterschiedlichen Meinungen. Das Themen ist in allen Debatten und überall in der Presse. Das ist das beste Symptom. Um diese Debatte zu verspotten, wird gesagt, es gäbe „Selbstzufriedene“ und „Selbstgeißler“. Die Selbstzufriedenen sind demnach diejenigen, die behaupten, das erfolgreiche Wirtschaftsmodell selbst werde alle Probleme lösen und Chile könne der Zukunft in einer sehr guten Position entgegensehen. Die Selbstgeißler sind demnach diejenigen, die trotz des Wachstums für Politik, Integration der Gesellschaft und Armutsentwicklung schwarz sehen.

Persönlich sehe ich mich weder selbstzufrieden noch selbstgeißelnd. Aber ich glaube, dieses Thema wird die zentrale Diskussion im Wahlkampf 1999 sein. Hoffentlich können andere Länder Lateinamerika davon lernen, daß nur das Wachstum des Sozialproduktes keine ausreichende Bedingung für die Entwicklung eines Landes schafft.

URUGUAY

Flußverschmutzung

(Montevideo, 11. August 1998, pulsar-Poonal).- Eine wissenschaftliche Untersuchung der Universität Uruguays bestätigt die hochgradige Belastung des Uruguayflusses und seiner näheren Umgebung durch Schwermetalle. Quecksilber und Blei sind in dem Fluß reichlich vorhanden. Bereits Anfang der 90er Jahre wurden in den Eingeweiden gefangener Fische aus allen Teilen des Flusses Schwermetalle nachgewiesen worden. Die Vergiftung des Uruguay rührt aller Wahrscheinlichkeit nach von Industrieabfällen und chemischen Düngemitteln her, die in der landwirtschaftlichen Produktion benutzt werden. Sie gelangen vielfach über zufließende Bäche in den Uruguay. Für den Oberlauf des Flusses haben mehrere brasilianische Universitäten aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul darauf hingewiesen, daß die einheimische Industrie verstärkt die Schwermetallabfälle in den Fluß kippt. Eine Universität brachte Fälle von mißgebildeten Babys und Föten direkt mit dem Wasserkonsum der Bevölkerung in Verbindung, die in der Nähe des Uruguay lebt. Auch Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer können durch mit Schwermetallen verseuchte Nahrungsmittel und Wasser hervorgerufen werden.

Vor wenigen Wochen wurde eine von der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanzierte Studie über den Uruguayfluß durch zwei Experten fertiggestellt Sie sollten das Ausmaß der Vergiftung erfassen. Bis jetzt sind die gesammelten Daten noch nicht veröffentlicht. Grund dafür soll Druck seitens der Regierung sein, da die Ergebnisse wohl ein schockierendes Bild vom katastrophalen Zustand des Flusses zeigen sollen.

Asphaltplan in Marsch gesetzt

Montevideo, 10. August 1998, comcosur-Poonal).- Seit Anfang Augustpatrouillieren Soldaten der Militärpolizei in den Straßen von Montevideo. Diese Initiative wurde als „Asphaltplan“ bekannt, die der Heereskommandant Generaloberst Fernán Amado im Mai diesen Jahres als Beitrag der Militärs zu öffentlichen Sicherheit vorgeschlagen hatte Damals erregte Amado mit dem Satz „die Polizei ist so überfordert, wie sie es 1973 war“ Aufsehen. 1973 leitete ein Putsch die Militärdiktatur von 1976 ein. Verteidigungsminister Raüul Iturria sprach vom Asphaltplan anfangs nur als einer „Idee“ des Heereskommandanten. Später dann sollte es sich um die Übwachung des an Militäreinrichtungen angrenzenden Geländes handeln. „Der Asphaltplan existiert nicht“, so Iturria erst kürzlich gegenüber der Presse. Vor dem Parlament soll nun Innenminister Luis Hierro López zu dem Thema Auskunft geben. Doch währenddessen bevölkern die Soldaten die Straßen der uruguayischen Hauptstadt.

ECUADOR

Radio geschlossen

(Quito/Montevideo, 7. August 1998, comcosur-Poonal).- Die Telekommunikationsbehörde hat dem Radio „FM La Luna 99.3“ zumindest vorübergehend die Senderechte entzogen. Offizieller Grund sind formale Kriterien. Der Sender spielte eine wichtige Rolle während der politischne Krise, die zur Absetzung des Präsidenten Abdalá Bucaram im Februar 1997 führte. Verschiedene Gruppen aus dem In- und Ausland haben gegen die Entscheidung der Telekommunikationsbehörde protestiert. Sie befürchten, daß es sich um eine Zensurmaßnahme gegen ein demokratisches Medium handelt, welches eine breite Zustimmung und Anteilnahme der Bevölkerung verzeichnen konnte.

BOLIVIEN

Cocaleros einmal mehr in Richtung La Paz

(La Paz, 11. August 1998, pulsar-Poonal).- Die bolivianischen Koka-Pflanzer*innen bewegen sich ein weiteres Mal im Demonstrationszug auf die Hauptstadt zu, um dergestalt ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie wehren sich gegen die Vernichtung ihrer Felder, solange sie keinen wirklichen wirtschaftlichen Alternativen in Aussicht haben. Aus nahezu jeder Gemeinde der Region um die Stadt Cochabamba kommen Abordnungen der Campesinos.

Das Motto des Marsches lautet „Für das Leben, die Souveränität, das Land und die Koka“. Der Gewerkschaftsdachverband COB will im ganzen Land Kommissionen gründen, um die Cocaleros zu unterstützen. Humberto Gutiérrez, Menschenrechtssekretär der COB schließt auch Straßenblockaden und Hungerstreiks nicht aus. Der Abgeordnete und Führer der Pflanzer*innen, Evo Morales, sagt, der Protest werde von keiner Partei und schon gar nicht vom Drogenhandel finanziert, wie die Regierung behauptet hatte. Morales nimmt selber an dem Marsch auf die Hauptstadt La Paz teil.

CONDEPA nach Regierungsausschluß in den letzten Atemzügen

(La Paz, 5. August 1998, recosur-Poonal).- Die CONDEPA ist eine der populistischsten und umstrittensten Parteien in Bolivien. Nach der Wahl Hugo Banzers zum Präsidenten des Landes trat sie in eine Regierungskoalition mehrerer Parteien ein. Anfang des Monats traf Banzer jedoch eine für viele überraschende Entscheidung: er schloß die CONDEPA aus der Regierung aus. Der offizielle Regierungssprecher nannte als Gründe die interne Parteiprobleme. Außerdem habe sie das Image des Regimes sowohl in Bolivien als auch im Ausland geschädigt.

Schon seit längerem hatten Parteimitglieder über Korruption und fehlende demokratische Strukturen intern geklagt. Doch weitreichendere Folgen hatte dies nie. In diesem Jahr sorgten zwei der wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Partei, Remedios Loza und Verónica Palenque durch ihr Verhalten als Parlamentarierinnen mehrfach für Unmut.

Der Vorwurf, eine Clique leite die Geschicke der Partei und die Gerüchte über veruntreute Gelder, schwächten CONDEPA ein weiteres Stück. Der Anspruch, mit Personen aus dem Volk – wie die Indígena Remedios Loza – für das Volk zu arbeiten, scheiterte allzu deutlich an der Wirklichkeit. Nach dem Abgang vieler Mitglieder, darunter auch Verónica Palenque, wird wohl nur eine völlige Neustrukturierung die Partei retten können. Für die Regierung hat der Ausschluß der CONDEPA aber nicht nur positive Seiten: Sie verliert ihre Zweidrittel- Mehrheit im Parlament.

PERU

Premier gibt seine Alibifunktion auf

(Lima, 10. August 1998, comcosur/pulsar-Poonal).- Nach kaum zwei Monaten schmiß er das Handtuch: Perus Premierminister Javier Valle Riestra. Er begründete dies mit einer Verschwörung gegen ihn sowie fehlender Demokratisierung der Regierung. Präsident Fujimori akzeptierte den Rücktritt. Damit hat ein Zustand ein Ende, der von vielen von Anfang an als Farce bezeichnet wurde. Der aus der Opposition stammende Riestra sollte nach Meinung von Beobachter*innen vor allem eine Feigenblattfunktion im Kabinett erfüllen. Dafür war sich der Kurrzeitpremier offenbar doch zu schade.

Dem Schritt Riestras waren eine ganze Reihe von Meinungsverschiedenheiten mit dem Rest des Kabinettes und Präsident Fujimori vorausgegangen. Erst wenige Tage vor seinem Rücktritt hatte der Premier die Haftbedingungen für den Führer und Gründer der Revolutionären Bewegung Tupac Amaru (MRTA) als „ungerecht“ bezeichnet. Víctor Polay Campos wurde 1992 zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Gegensatz zum Chef der maoistischen Guerillaorganisation Leuchtender Pfad, Abimäl Guzmán, der in einem „komfortablen Gefängnis“ begleitet von seiner Frau leben könne, sei Polay in einer „kleinen Zelle eingeschlossen, mit nur 30 Minuten Ausgang pro Tag“, so Riestra vor ausländischen Journalisten. Guzman unterschrieb auf Drängen der Regierung Briefe, in denen er seine Organisation zum Friedensschluß aufrief und Selbstkritik übte. Polay dagegen hat dies immer verweigert.

Riestra hatte gegenüber den Journalist*innen ebenfalls versichert, Fujimori werde im Jahr 2000 „auf keinen Fall“ für eine dritte aufeinanderfolgende Amtszeit wiedergewählt. Er unterstütze ein Referendum über die Frage, ob Fujimori überhaupt als Kandidat antreten dürfe. Für den Beginn des kommenden Jahrhunderts versprach er eine „vollständige Demokratie“. Die Regierungsmehrheit im Parlament nannte Riestra „geschwätzig und langsam“. Sie halte sich nicht an die Verfassung.

Jetzt dreht sich das Kandidatenkarussell wegen der Nachfolgefrage. Unter den Favoriten von Präsident Alberto Fujimori soll sich der frühere Bürgermeister von Lima und Ex-Präsidentschaftsanwärter Luis Bedoya Reyes befinden. Bedoya gründete die Christliche Volkspartei und war ein wichtiger Verbündeter von Präsident Fernando Belaüunde Terry in dessen zweiter Regierungszeit von 1980 bis 1985. Derzeit erklärt sich die Christliche Volkspartei als der Opposition zugehörig. Eine andere oft genannte Person ist der Bauunternehmer Jorge Camet. Er war schon einmal mehrere Jahre lang Wirtschaftsminister des Landes. Dritter Kandidat im Bunde ist der aktuelle Außenminister Luis Ferrero Costa. Schließlich ist noch Alberto Pandolfi im Gespräch, der das Amt des Premiers schon vor Valle Riestra innehatte.

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