Poonal Nr. 232

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 232 vom 28. Februar 1996

Inhalt


PERU

HAITI

KUBA

ARGENTINIEN

URUGUAY

PARAGUAY/URUGUAY

GUATEMALA


PERU

Die Fälscher-GmbH

– von Zoraida Portillo

(Lima, 19. Februar 1996, sem-POONAL).- Carlos Reyes ficht vor den peruanischen Gerichten einen merkwürdigen Kampf aus: er muß beweisen, nicht tot zu sein. Alles begann vor zwei Jahren, als seine Frau plötzlich mit den beiden minderjährigen Töchtern verschwand. Bei seinen Nachforschungen erfuhr Reyes, daß seine Familie in Spanien lebte. Verzweifelt entschied er, sie auf dem anderen Kontinent zu suchen. Sein Drama begann: Als er seinen Reisepaß beantragte, stellte er fest, daß er sechs Monate zuvor gestorben war – einen Monat, bevor seine Frau ihn verließ. Seine Einwände halfen nichts. Die Migrationsbehörde besaß die Sterbeakte von Carlos Reyes. Seine Ehefrau hatte sie vorgelegt, um mit ihren beiden minderjährigen Töchtern die Ausreiseerlaubnis zu bekommen. In Peru ist normalerweise die notariell beglaubigte Erlaubnis beider Elternteile erforderlich, um einen Minderjährigen mit ins Ausland nehmen zu können.

„Ich sagte ihnen, ich sei ganz lebendig und zeigte ihnen meinen Wahlausweis. Aber als sie im Wahlregister nachfragten, bestätigten sie dort meinen Tod. Genauso bei der Stadtverwaltung von Lima, wo meine Geburtsurkunde und die Sterbeakte liegen. Ich dachte, ich wäre verrückt geworden“, erzählt Reyes. Doch war er weder verrückt, noch stand die Welt auf dem Kopf. Reyes Ehefrau hatte offensichtlich mit gefälschten Papieren die Behörden vom Tod ihres Mannes überzeugt. Das ist in Peru nicht ungewöhnlich. Angesichts der Notwendigkeit, zu überleben, ist ein neuer Berufszweig entstanden: Der Fälscher. In der peruanischen Hauptstadt, wo er ein eigenes Stadtviertel zur Ansiedlung gefunden hat, ist das Paradies des Fälscherberufes. Dort kann man alles an Dokumenten, Belegen, Schriftstücken bekommen, was man gerade braucht. María Z. zeigt stolz ihren Titel von einer prestigeträchtigen peruanischen Universität, der sie berechtigt, als Anwältin zu arbeiten. „Azángaro“, antwortet sie mit einem Lachen, als sie nach dem Ursprung ihres Diploms gefragt wird. So heißt das neue Stadtviertel, wo man die Titel bekommen kann. „Für 100 Soles (keine 50 Dollar) hab ich ihn und wie Du siehst, muß man schon eine große ExpertIn sein, um die Fälschung zu erkennen.“ Dabei zeigt sie die Wasserstempel, die das Dokument angeblich fälschungssicher machen.

Für die Fälscher*innen von Lima ist nichts unmöglich: Angesichts der Kommunalwahlen des vergangenen Novembers erklärte José Portillo, der Vorsitzende des Nationalen Wahlbüros, die Hologramme der Wahlausweise seien in England hergestellt worden und könnten nicht gefälscht werden. Zwei Wochen später beschlagnahmte die Polizei in der Nähe von Portillo in einem Büro tausende gefälschter Hologramme. Bisher kann nicht geschätzt werden, wieviele der Hologramme auf den Wahlausweisen falsch sind. Die Dokumente sind vollkommen. Ein bekannter Notar aus Lima, dem ein angeblich von ihm unterschriebenes Papier gezeigte wurde, mußte die Imitation als „fast perfekt“ anerkennen. Der Anwalt bat um Anonymität, „um bei meinen Kunden nicht unglaubwürdig zu werden“. Er fügte hinzu: „Man müßte meinen Hang zur Perfektion haben, um den Betrug zu sehen. Da das normalerweise nicht so ist, kommt das gefälschte Dokument als echt durch.“

„In Azángaro bekommst Du an gefälschten Papieren, was Du Dir vorstellen kannst“, bestätigt ein Polizist aus der Betrugsabteilung. Ein Gang durch dieses Viertel in der Nähe des Justizpalastes ist eine fesselnde Erfahrung. Männer verschiedensten Alters gehen auf die Spaziergänger zu und fragen „was brauchen Sie?“. StudentInnenausweise, die die Fahrt zum halben Preis im öffentlichen Personentransport erlauben, Prüfungszeugnisse, Wahlausweise – das einzige Indentitätsdokument-, Akten aller Art zu Tod, Geburt, Ehe, polizeiliches Führungszeugnis, Kraftfahrzeugscheine, Universitätstitel. Was der Kunde wünscht und das zu moderaten Preisen. „Wir müssen uns nur einig werden“, sagt eine der Kontaktpersonen, als sein vorgeschlagener Preis für ein Uni-Diplom (100 Soles, etwa 40 Dollar) als zu hoch kritisiert wird. „Ich kann Dir eins von einer anderen Universität billiger geben, für 80 Soles.“ Ein Stückchen weiter, bei der Frage nach einem Wahlausweis, eine weitere Überraschung. Ohne mit der Wimper zu zucken, fragt der Kontaktmann, ob ein neuer Ausweis oder einer aus zweiter Hand gewünscht sei. Letzterer sei natürlich billiger. Die Fälscher*innen sind nicht nur gewandt in der Herstellung falscher Dokumente. Sie wissen auch, sich authentische zu besorgen: die Wahlausweise werden geraubt und die Daten der Bürger*innen mit einer Methode 'weggewaschen', die als Berufsgeheimnis bewahrt wird. So ist der Ausweis fertig, um von Neuem ausgefüllt zu werden. Das Endergebnis ist nicht vollkommen. Darum kosten die gewaschenen Ausweise nur 10 Soles, die gefälschten aber 30 Soles. Für 50 Soles werden auch die geraubten authentischen Wahlausweise verkauft. Dank dieser Dokumente kommen viele gesuchte Personen, einschließlich Terrorist*innen, in den Genuß einer neuen, nicht widerlegbaren Identität.

Mit einem Universitättitel, einer neuen Identität frei von Vorstrafen oder dank des Hologramms als pflichtbewusste BürgerIn aus Azángaro herauszukommen, ist eine Sache von höchstens 30 Minuten. Die Preise bewegen sich zwischen 12 und 50 Dollar zum jeweiligen Tageswechselkurs und abhängig von der Art des gewünschten Dokumentes. Das Unglaubliche des illegalen Geschäftes ist, daß alle davon wissen. Die journalistischen Fernsehprogramme bringen regelmäßig Reportagen darüber. Doch die Klagen bleiben folgenlos. Den ehrlichen Bürger*innen wird das Leben schwer gemacht. Vorsichtige Schätzungen der Gerichtsbehörden gehen davon aus, daß der staatlichen Verwaltung 1995 aufgrund der gefälschten Dokumente etwa 30 Millionen Soles (etwa 12 Millionen Dollar) an Einnahmen entgingen. „Die Papiere sind sehr gut gemacht. Wir wissen, daß es sich um eine große und gut organisierte Bande handelt, die seit etwa drei Jahren arbeitet. Aber wir kennen nicht alle ihre Mitglieder“, sagt Luis Larriva, der Chef der Betrugsabteilung bei der Polizei. „Jetzt richten wir die Untersuchungen darauf, die Druckerei zu finden, wo die Dokumente gefälscht werden.“

Nach anderen Quellen kann dies in der Mega-Stadt wie Lima zu einer titanischen Arbeit werden. Mehr als sechs Millionen Einwohner*innen, ein großer informeller Sektor und weder ein Register noch eine Kontrolle der bestehenden Unternehmen. Vom Umfang des illegalen Geschäftes gibt das Ergebnis der letzten Polizeirazzia Ende Januar ein Bild: 800 Prüfungszeugnisse, 329 Wahlausweise mit Stempel und Hologramm, 125 Wehrbücher und 250 Geburtsurkunden aus zwei Gemeinden wurden beschlagnahmt. Die Liste ist noch länger: 50 StudentInnenausweise, 50 Ausweise, die den Zutritt für Fahrzeuge in kontrollierte Zonen in Limas Stadtzentrum autorisieren, 30 polizeiliche Führungszeugnisse, 37 Kraftfahrzeugscheine und verschiedene Stempel von Universitäten, Kommunen, öffentlichen Behörden, usw. Personen wie Carlos Reyes sind unterdessen im legalen Spinnennetz verloren. Der sagt: „Bei diesem Stand der Dinge bleibt mir nichts anderes übrig als mir eine neue Identität aufzubauen.“ Wie? Vielleicht schaut er mal in Azángaro vorbei.

HAITI

Community-Radios (Teil 1)

Community Radios sind im Kommen. Poonal hat immer wieder einzelne kleinere Beiträge seiner Mitgliedsagenturen über dieses Phänomen gebracht. „Hib“ aus Haiti und „Comcosur“ aus Uruguay haben uns ausführlichere Berichte über die Community Radios geschickt. POONAL bringt diese Beiträge in einer kleinen Serie.

(Port-au-Prince, Februar 1996, hib-POONAL).- Während die Weltmedien – Radio, Fernsehen, Presse – sich in immer weniger Händen konzentrieren, existiert eine Gegenbewegung, die Kommunikationsmittel auf der „Graswurzelebene“ in die Hände der Bevölkerung zu geben. Auf Haiti ist die Bewegung für das Community- oder Volksradio ein junges Phänomen (in diesem Artikel wird das englische Wort Community übernommen, weil es sowohl mit Gemeinschaft, Gemeinde, Gesellschaft und Öffentlichkeit übersetzt werden kann und den Charakter dieser Radioform besser charakterisiert als eine verkürzende Übersetzung; die Red.). In einem Land, in dem 80 Prozent der Menschen nicht lesen und schreiben können und die meisten keinen oder wenig Zugang zu den Medien haben, sind die Radiosender prädestiniert, eine wichtige Rolle in der Demokratie- und Volksbewegung zu spielen. Die Begriffe „Community-Radio“ oder „Volksradio“ sind schwer zu definieren. Ein örtliches Radio in den Händen einer rechtsgerichteten politischen Partei würde nicht in die Definition einiger Leute passen. Nach anderen genausowenig ein fortschrittliches Radio im Untergrund. Für viele sind die entscheidenden Punkte die Beteiligung und die Kontrolle durch die „Community“, sei es ein Stadtviertel, eine Campesino-Gruppe oder eine Gewerkschaft.

1983 entstand die Weltweite Vereinigung von Community-Radios (AMARC), die heute 1.000 Mitglieder aus fünf Kontinenten hat. Sie definierte in ihrer Erklärung von 1988 Community-Radio als ein Radio, das „in erster Linie den Bedürfnissen der Communities antwortet, denen es dient; zu ihrer Entwicklung innerhalb einer fortschrittlichen Perspektive zugunsten sozialen Wandels beiträgt „und „anstrebt, die Kommunikation durch Community-Beteiligung zu demokratisieren“. Aufgrund dieser Orientierung, die in zahlreichen Fällen Information und Mobilisierung für die unterdrückten Menschen bedeutete, haben konservative und reaktionäre Kräfte diese Radios wiederholt verfolgt und zerstört – von Bolivien bis Taiwan bis Canada.

Erste Erfahrungen auf Haiti

Nach Angaben der AMARC gibt es in Lateinamerika inzwischen mehr als 1.000 Community-Radios. Auf Haiti war der erste Sender dieser Art für Manche das „Radyo Soley Leve“, das „Radio der aufgehenden Sonne“. Es operierte clandestin und unregelmäßig in der der Zeit des Putschregime. Für den Journalisten und Radioausbilder Sony Esteus von der Sosyte Animate Kominikasyon Sosyal (SAKS), einer Nicht-Regierungsorganisations, die Community Radiosender betreut, war Soley Leve eher ein „Kampfsender“. Denn „er konnte nicht wirklich eine Community-Orientierung haben, weil er im Untergrund arbeitete und im wesentlichen politisch war, während Community Radios auch eine soziale Rolle spielen sollten. Nach Esteus Meinung verdient Radyo Bwakayman die Bezeichnung als ersten Sender dieser Art auf Haiti. Radio Bwakayman startete 1991 unter anderem auf Initiative eines Priesters. Beim Putsch wurde es geschlossen, konnte aber 1992 wieder arbeiten. Heute arbeitet SAKS mit über 20 Organisationen zusammen, die Community Sender betreiben oder sie einrichten wollen. Derzeit funktionieren neun Community Radios und sieben weitere werden in den kommenden Monaten den Sendebetrieb aufnehmen. Trotz der übergroßen Herausforderungen wie der Unterdrückung und Zerschlagung von Volks- und Campesino- Organisationen, fehlendem Strom, schrecklicher Straßen, bergigen Geländes, dem Preis der Ausrüstung usw.

Tet Kole Ti Peyizan Ayisyen, eine landesweite BäürInnenbewegung, will in Kürze drei Stationen an verschiedenen Punkten des Landes eröffnen. An der Haitianischen Staatsuniversität beginnt eine neue Erfahrung. Im Rahmen der Öffnung der Universität gegenüber der Gesellschaft und dem Verständnis, der Gemeinschaft Dienstleistungen zu bieten, gibt es dort ein neues und ständiges Bildungsprogramm. Im Dezember hielten Student*innen und die Humanwissenschaftliche Fakultät zusammen mit einer mexikanischen Institution ein zweiwöchiges Seminar über Community Sender ab. Es ist noch nicht lange her, daß die von Präsident Jean-Bertrand Aristide gegründete Waisenstiftung Lafanmi Selavi die Ausrüstung bekam, um Radyo Timoun (das Radio der „jungen Leute“) zu starten. Im vergangenen Jahr eröffnete die Mouvman Peyizan Papay (MPP) in Hinche ihr Radyo Vwa Peyizan („Stimme des Campesinos).

SAKS bildet nicht nur viele Radioteams aus, sondern hilft auch, Geldmittel und Ausrüstung zu beschaffen. Die Organisation wurde von Joseph Georges mitbegründet, einem früheren Mitglied des Radio Soleil der katholischen Kirche. Dieser Sender trug zur Bevölkerungsmobilisierung in den 80er Jahren bei. Georges gehört ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern von AMARC und war lange Zeit Vizepräsident für die lateinamerikanische Region. Für SAKS, so Sony Esteus, ist ein Radiosender dann ein Community Radio, wenn es sich den Händen einer Volks- oder Campesino-Organisation befindet und bei dem sich „die ganze Community auf den verschiedenen Ebenen beteiligt“. Das Radio soll im wesentlichen bildungsorientiert sein, Information über Landwirtschafts- und Gesundheitsfragen verbreiten und auch politische Bewußtseinsbildung leisten. Das Ziel von SAKS: „Das Werkzeug für die Kommunikation in die Hände der Basis legen.“ Seit ihrem ersten Ausbildungsseminar hat die Nicht-Regierungsorganisation über 50 Treffen im ganzen Land abgehalten. Dort werden die Teams in Selbstverwaltung, Nachrichtenbeschaffung und Interviewtechniken geschult. Zur Zeit hilft SAKS dabei, die Sender in einem Netzwerk zu verbinden, damit die Nachrichten und Programme austauschen können. Die Anfragen weiterer Gruppen übersteigen momentan die Kapazität der Organisation. Ein anderer Schwerpunkt der Arbeit zielt darauf ab, die haitianische Gesetzgebung über das Kommunikationswesen zu ändern. Bisher werden nur kommerzielle oder kircheneigene Radiosender anerkannt.

Die Rolle der UNESCO

Es gibt vier Radiostationen, die mit Hilfe der UNESCO im letzten Herbst eröffnet wurden. Der örtliche UNESCO-Beauftragte Jorge Espinal sagt, die UNO-Organisation habe mit Community Radios auf der ganzen Welt zu tun. Er hält sie für „ein wichtiges Instrument, das die Lebensqualität verbessern kann“. Mit Nachrichten, Bildungs-, Landwirtschafts- und Gesundheitsprogrammen sowie Musik- und Kulturteilen könnten sie „Ideen von Freiheit und Frieden fördern… und den Entwicklungsprozeß konsolidieren“. Die vier Sender auf Haiti strahlen ihre Programme laut Espinal für schätzungsweise 150.000 Menschen aus. Sie entstand, weil Aristide bei einem Frankreichbesuch 1993 UNESCO-Mitglieder sprach und sie um Hilfe für den Aufbau von Radiostationen auf dem Land bat. SAKS suchte die Orte und bildete die Mitarbeiter*innen aus. Die haitianische Regierung soll drei Jahre lang Gehälter und technische Unterstützung finanzieren, obwohl nach UNESCO-Angaben diese Verpflichtung bisher nicht eingelöst wurde. In einigen Gebieten wie beispielsweise Tiburon in Grand Anse waren die Sendungen die ersten, die die Leute jemals dort hörten. Die meisten hatten nicht einmal eigene Radios. Der Sender gründete eine Genossenschaft, bei der die Bevölkerung Radios auf Kredit kaufen kann. Die Abhängigkeit von der Regierung grenzt diese vier Radios von den anderen ab und widerspricht der Standardphilosophie der Community Sender. Die Auswirkungen können erst in einigen Monaten eingeschätzt werden.

KUBA

Was bleibt vom Sozialismus?

– von Orlando Perez S.

(Havanna, 22. Februar 1996, alai-POONAL).- Die Veränderungen, die Kuba in letzter Zeit durchmacht, rufen eine Menge Fragen bei verschiedenen Gruppen auf unserem Kontinent hervor. Sowohl bei denen, die auf der Insel investieren und den größten Vorteil aus der Öffnungspolitik ziehen wollen als auch bei denen, die hinter dem Phänomen eine Reihe von Fragezeichen sehen, die ohne offizielle Erklärung bleiben. Unter dem Druck, die wichtigsten Bedürfnisse und Schwierigkeiten lösen zu müssen, hat die Regierung von Fidel Castro nach eigenen Worten „noch keine Zeit, die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre theoretisch zu bewerten“. Mehr noch, ständigen Feindseligkeiten und Bedrohungen ausgesetzt, ist die Idee eines neuen Modells oder Systems eine Aufgabe der Wissenschaftler*innen geblieben. Diese werden gleichzeitig von den täglichen Herausforderungen der kubanischen Wirtschaft „überholt“.

Carlos María Vilas, Forscher der Autonomen Mexikanischen Nationaluniversität (UNAM) fragt während des Seminars „Alternativen der Linken gegenüber dem Neoliberalismus“, das vom 12. bis 14. Februar in Havanna stattfand, unverblümt: „Was bleibt vom Sozialismus auf Kuba?“ Es gab weitere Fragen: Welchen Einfluß hat die Wirtschaftsreform auf das politische System Kubas? Haben sich die Institutionen der Revolution erschöpft? Welchen Weg geht Kuba? In welcher Weise drücken sich die Veränderungen aus? Dreißig Wissenschaftler*innen aus Lateinamerika und Europa analysierten verschiedene Aspekte der kubanischen Transformation in den fünf Jahren der Spezialperiode. Elvira Concheiro, ebenfalls von der UNAM, kommentierte: „Im Zentrum jeder kubanischen Veränderung steht das politische Thema. Es handelt sich darum, die Formen der Beteiligung und der demokratischen Übung zu öffnen.“ Sie fügte hinzu: „Wir Mexikaner*innen wissen, was es bedeutet, jahrzehntelang von einer Revolution zu sprechen, ohne daß dies etwas repräsentiert, denn die Revolutionen sind keine ewige Bewegung, sie institutionalisieren sich und verlieren ihre Fähigkeit kollektiver Beteiligung.“ Choncheiro schloß die Frage an, bis zu welchem Punkt die kubanische Bevölkerung diese breite Beteiligung bei wichtigen Entscheidungen für das Land verloren habe.

Manuel Monero von der Stiftung Marxistische Studien aus Madrid sprach dem Interesse der Kubaner*innen seine Anerkennung aus, der Bevölkerung den Zugang zum Parlament über die direkte und geheime Wahl zu erleichtern. Er zweifelte aber daran, daß das heute bestehende politische System Kubas auf die komplexen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der vergangenen Jahre antworten könne. „Heute haben wir beispielsweise das Auftauchen einer wirtschaftlichen Macht, die unabhängig von der politischen Macht sein kann oder nicht notwendigerweise ihren Regeln angepaßt ist.“ Monero fragte: „Ist im Hinblick auf seine eigene Regierungsfähigkeit ein Staatsapparat denkbar, der sich auf völlig andere Grundlagen stützt? In welcher Situation befindet sich heute die Staatsmaschinerie, verändert sich die Rolle der Kommunistischen Partei, ihre innere Funktionsweise und der Grad der Mitgliederbindung? Emir Sader von der Universität Sao Paulo drückte sein Erstaunen gegenüber dem offiziellen Diskurs aus, der jegliche Überprüfung der sozialistischen Vergangenheit Kubas verweigert. „Wir sind Kinder unserer Vergangenheit. Man muß mit ihr abrechnen, damit wir in die Zukunftl blicken können. Es bringt nichts, zu sagen, daß dieser Sozialismus so originell und so anders ist, daß wir ihn deswegen nicht kritisieren dürfen.“ Sader forderte auf, Dogmen zu brechen, die Kuba mit anderen teilte: „50 Prozent der kubanischen Bevölkerung sind junge Leute, die nach der Revolution zur Welt kamen und die die Handbücher des sowjetischen Marxismus studierten. Diese Bevölkerung hat ein Erklärungsbedürfnis, was passierte, warum jetzt Maßnahmen angewendet werden, die man vorher kritisierte.“ Die Debatte beschränke sich jedoch auf wissenschaftliche Kreise, die Bevölkerung werde kaum einbezogen. (In der kommenden Poonalausgabe stellt Orlando Perez die Antworten der kubanischen Seite auf die Kritik dar; die Red.)

Erklärung des Außenministeriums zum Flugzeugabschuß

(Havanna, 26. Februar, prensa latina-POONAL).- Kuba warnte heute, es werde seine Souveränität gegenüber jeder Drohung verteidigen, wie es das bisher glaubwürdig gezeigt habe. Es unterstrich, unwiderlegbare Beweise dafür zu haben, daß die Vereinigten Staaten in ihrer Version des Abschusses zweier Flugzeuge lügen. Prensa Latina dokumentiert im folgenden den Text der zweiten Erklärung des kubanischen Außenministeriums [vom 26. Februar] zu dem Vorfall:

„In gestern in Washington herausgegebenen Erklärungen, die von ausländischen Nachrichtenagenturen verbreitet wurden, bezeichnete der nordamerikanische Außenminister Warren Christopher den Abschuß zweier nordamerikanischer 'ziviler' Flugzeuge durch kubanische Flugzeuge als 'völlig ungerechtfertigt'. Laut dem Chef des Außenministeriums stellt das Vorkommnis eine 'offenkundige Verletzung internationaler Gesetze und der Regeln eines zivilisierten Landes' dar. Weiter sagte Christopher, daß man nach den in seinem Land zur Verfügung stehenden Informationen 'zu dem Schluß kam, daß der Angriff über internationalen Gewässern stattfand' und nicht, wie es die kubanische Regierung bekräftigt, über dem Wasser ihres Hoheitsgebietes. In diesem Sinne maß der US- Diplomat auch den Anführungen Havannas keinen Wert zu, indem er die Erklärungen Kubas als „weder plausibel noch akzeptabel“ bezeichnete. Schließlich erwähnte besagter Außenminister in drohendem Ton, die Antworten des Präsidenten William Clinton auf die von unserem Land durchgeführte Aktion würden schnell und angemessen sein. Er sagte, daß 'wir uns nicht auf multilaterale Aktionen beschränken werden, sondern daß wir Aktionen in Erwägung ziehen, die die Vereinigten Staaten einseitig ergreifen können'.

Das Geringste, was über die Erklärungen dieses Verantwortlichen der Außenpolitik der Vereinigten Staaten gesagt werden kann, ist, daß er in einer zynischen Art und in einer Sprache lügt, die an die erinnert, die wir seit 36 Jahren von hohen Funktionären der verschiedenen Regierungen des Nachbarlandes hören. Ein erster Punkt, den es zu erwähnen gilt, ist, daß die nordamerikanischen Autoritäten noch am selben Samstag um die Erlaubnis baten, in unsere Hoheitswässer im Norden von Havanna einzudringen, um zusammen mit den Kubaner*innen an den Such- und Rettungsarbeiten in dem Gebiet teilzunehmen, in dem der Abschuß der Piratenflugzeuge geschah. Ein Beweis, daß es sich um einen legitimen Verteidigungsakt unseres Luftraumes handelte und nicht, wie der Herr Diplomat urteilte, um eine 'völlig ungerechtfertigte' Tat.

Das dient auch dazu, unsere Versicherung zu bestätigen, daß der Abschuß im Bereich des Luftraumes und der Hoheitsgewässer Kubas stattfand und nicht in den internationalen Bereichen, wie es Christopher behauptete. Doch das ist nicht die grundsätzliche Frage, sondern die Tatsache, daß diese Grenzübertretungen sich hunderte Male ereignet haben, einschließlich der Piratenflüge über unser Territorium bis nach Havanna. Die zahlreichen Warnungen mißachtend, mußten sie auf die eine oder andere Weise diesen Zwischenfall provozieren. Es handelt sich um eine kolossale Dreistigkeit, jetzt anzuführen, er habe sich über internationalen Gewässern abgespielt. Kein Land, das sich selbst respektiert, könnte das tolerieren, was gegen Kuba in jedes Mal schamloserer und erniedrigerender Weise unternommen wird. Die USA hätten es nicht ein einziges Mal erlaubt.

Der demokratische Kongreßabgeordnete Charles Rangel, ein mutiger und anständiger Mann, sagte gestern in Erklärungen gegenüber der US-Fernsehkette CNN, daß 'keine nordamerikanische Gruppe das Recht hat, den kubanischen Luftraum zu verletzen, um Propaganda gegen die Regierung abzuwerfen und dabei die Gesetze der Vereinigten Staaten und Kubas zu übertreten'. Die voreilige Erklärung des Außenministers widerspricht den Kriterien, die am selben Tag in Washington ein nicht namentlich genannter Regierungsfunktionär der Agentur REUTER nannte. Er sagte aus Anlaß eines an diesem Tag stattgefundenen Treffens im Weißen Haus von Beratern des Präsidenten William Clinton, eines der Ziele sei gewesen, 'gemeinsam alle Beweise, die wir haben, abzuwägen', ob die Flugzeuge sich in den kubanischen Luftraum hineingewagt hätten, als sie abgeschossen wurden. Er gab Belege für die Unsicherheit, ob es einen Übertritt gegeben habe oder nicht.

Aber falls auf der nordamerikanischen Seite noch irgendein Zweifel bestehen sollte, so haben wir eindeutige Beweise, wie die Minute für Minute vom Radarschirm aufgezeichneten Karten, aufgenommene Gespräche und bis hin zu Gegenständen der Verletzer unserer Souveränität, die in kubanischen Gewässern nördlich der Hauptstadt gefunden wurden, wo am Samstag, den 24. Februar die Gesetzesübertreter abgeschossen wurden. Aus den gleichen Gründen fehlt der Anschuldigung, wir hätten internationale Gesetze verletzt, das Fundament. Es wäre vielmehr die nordamerikanische Seite, die dieser Veranwortung ins Gesicht sehen müßte, weil sie wiederholt toleriert hat, daß Flugzeuge mit US-Registrierung und von ihrem Territorium mit einer Fluggenehmigung startend die Route ändern und offenkundig in unseren Luft- und Meersraum eindringen, um nachher zurückzukehren, ohne irgendeine gerichtliche Sanktion in den USA befürchten zu müssen.

Außerdem haben Sprecher der Vereinigten Staaten nach dem Zwischenfall zugegeben, daß die Förderer dieses [Zwischenfalles] rechtzeitig vor jedem Flug Richtung Kuba, der auf absichtliche Übertritte und Provokationen angelegt ist, gewarnt worden seien. Der Übertritt des 24. Breitengrades könne Probleme schaffen und die nordamerikanische Regierung übernehme dafür keine Verantwortung. Ein Beispiel: Der Präsident der kubanisch- amerikanischen Pilotenvereinigung, Jorge Dorrbecker, bestätigte gestern, daß die Autoritäten der Bundesluftfahrtbehörde der USA vor etwa drei Wochen neue Warnungen bezüglich Kuba ausgegeben hätten. So verbreitete es die Nachrichtenagentur NOTIMEX von Miami aus. Dorrbecker fügte hinzu, daß 'alle Piloten gewarnt wurden, daß die kubanische Regierung im Falle des Überschreitens des 24. Breitengrades ohne Fluggenehmigung nicht für ihre persönliche Sicherheit verantwortlich sein würde.' Die Warnung wurde, wie in der am Sonntag, 25. Februar veröffentlichten Mitteilung unseres Ministeriums in Erinnerung gebracht wird, auch durch die Behörden der kubanischen zivilen Luftfahrt ausgesprochen, die angesichts der Piratenflüge die Gesetzesbrecher mahnte, nicht den erwähnten Breitengrad zu überschreiten. Diese Grenze erkennt unter anderen ein US-Funktionär an, der heute von der Tageszeitung THE MIAMI HERALD zitiert wird.

Jetzt, so brachte es Warren Christopher vor, untersucht die Regierung seines Landes die Möglichkeit, Maßnahmen gegen Kuba anzuwenden, die auch vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützt werden könnten. Die Vereinigten Staaten sind frei, die Entscheidungen oder Maßnahmen zu treffen, die sie für angebracht halten, aber sie müssen sich bewußt sein, daß diese unvermeidlicherweise auch negative Folgen für sie selbst haben. Unser Land hat bewiesen, mit Gelassenheit und Standfestigkeit angesichts der von nordamerikanischem Territorium ausgehenden unzähligen Pläne und Ruchlosigkeiten, denen es sich in mehr als dreieinhalb Jahrzehnten stellen mußte, zu handeln. Kuba ist für seine Handlungen verantwortlich und wird es immer sein. Es hat bewiesen, daß es seine Souveränität zu verteidigen weiß und die Drohungen, die unter den gegebenen Umständen unter anderem in Maßnahmen vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bestehen könnten, nicht fürchtet.

Schließlich, um auch nicht den geringsten Zweifel daran zu lassen, daß Herr Warren Christopher mit Absicht lügt, haben wir einen Piloten dieser Gruppe bei uns, die soviele Gewalttätigkeiten gegen unser Land durchgeführt hat. Bis vor einigen Stunden war er noch auf ihrer Seite. Dieser Pilot weiß viel. Es gibt unwiderlegbare Hinweise, daß diese Gruppe weit davon entfernt ist, humanitäre Aktionen durchzuführen, wie es lächerlicherweise Herr Christopher anführt, und dafür, daß sie eine terroristische Mafia bildet, die abstoßende und blutige Pläne gegen unser Volk ausarbeitet. Wir sind bereit, über diese Themen mit Herrn Christopher im Sicherheitsrat oder wo er es wünscht, zu diskutieren. Genug des Opportunismus, der Feigheit und der Versuche, Kuba in politische Machtspiele der Vereinigten Staaten hineinzuziehen. Wir sind bereit zu kämpfen. Das soll niemand verkennen.“

ARGENTINIEN

Repression gegen demonstrierende StudentInnendemo in La Plata

(Montevideo, 26. Februar 1996, comcosur-POONAL).- Mehr als 250 Festnahmen, zahlreiche Verletzte, die von der Polizei niedergeknüppelt und von Gummigeschossen getroffen wurden, Schüsse auf Kameraleute des Fernsehens, eine verletzte Hebe Bonafini, die Sprecherin der Mütter von der Plaza de Mayo. Dies ist die vorläufige Bilanz der StudentInnenproteste gegen das neue Hochschulgesetz in La Plata, Hauptstadt der Provinz Buenos Aires. Der Provinzgouverneur rechtfertigte den Einsatz der Polizei und zeigte sich mit dem Ergebnis zufrieden. Alles begann am vergangenen Dienstag, dem 20. Februar, als sich die Studenten in La Plata erneut versammelten, um gegen das „Gesetz für die höhere Bildung“ und die entsprechenden Veränderungen in den Unistatuten zu protestieren. Die Möglichkeit zur Einführung von Studiengebühren und weniger Mitwirkungsmöglichkeiten in den Gremien der Universität und den höheren Schulen hatte Proteste bei Student*innen, Professor*innen und zahlreichen Bildungsexpert*innen in Argentinein ausgelöst. In der Provinzhauptstadt La Plata war die Veränderung der Unistatuten von den Student*innen eine Woche zuvor durch eine Blockade des Sitzungsgebäudes verhindert worden.

Am erwähnten Dienstag marschierten zahlreiche Polizeiverbände im Universitätsviertel auf und verhafteten bereits am morgen 237 Student*innen auf der Straße und brachten sie in ein Gebäude, daß während der Militärdiktatur als berüchtigtes Folterzentrum diente. Mehrere hundert Menschen versammelten sich daraufhin vor dem Gebäude der Infanterieabteilung der Polizei, um die Freilassung der Gefangenen zu fordern. Gegen zehn Uhr morgens begann die brutale Repression, die an die Zeit der Militärdiktatur erinnerte und von den Medien live in die Wohnzimmer der Argentinier*innen übertragen wurde. Mit Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen ging die Polizei gegen Demonstrant*innen, Pressefotograf*innen und TV-Kameraleute vor. Polizisten in Uniform und Zivil, Polizeifahrzeuge ohne Nummernschild und Panzerwagen, ausgetattet mit automatischen Gewehren und schweren Waffen, gingen gegen die Menge vor. Hebe Bonafini, Sprecherin der Mütter von der Plaza de Mayo, hatte versucht, mit einem TV Team in das Polizeigebäude zu gelangen, um sich nach den Gefangenen zu erkundigen. Die Gruppe wurde gewaltsam wieder vor die Tür gesetzt. Hebe Bonafini erhielt einige Schläge mit dem Knüppel. Die Platzwunde am Kopf mußte im Krankenhaus genäht werden. Hernan Ramos, Kameramann vom Kanal 13 wurde von 6 Gummigeschossen aus kurzer Distanz am Bein getroffen befand sich noch drei Tage später im Krankenhaus.

Am Nachmittag, als sich die Nachrichten über die Repression in der Provinzhauptstadt herumgesprochen hatten, strömten zahlreiche Familienangehörige zur Polizeikaserne, um über den Verbleib der verhafteten Student*innen Auskunft zu fordern. Auch diese Kundgebung wurde massiv bedroht und gewaltsam aufgelöst. In den frühen Morgenstunden des Mittwochs wurden die meisten Festgenommenen wieder freigelassen. Zuvor mußten sie ein Papier unterschreiben, in dem sie anerkannten, die Unruhen provoziert zu haben. Mehrere Journalist*innen, die über die Repression in La Plata berichtet hatten, erhielten massive Drohungen von der Regierung. Ein Funktionär des Wirtschaftsministeriums drohte z.B. damit, den Journalisten Joge Lanata aus dem Sender zu entfernen.

Eduardo Duhalde, Gouverneur der Provinz Buenos Aires und Peronist mit großen Ambitionen, der nächste Staatspräsident Argentiniens zu werden, verteidigte zunächst das Vorgehen der Polizei. Sein Sicherheitschef, Ex-Richter Alberto Piotti, räumte allerdings ein, daß es zu einigen „Exzessen“ auf Seiten der Polizei gekommen sei. Nachdem der Gouverneur über die Medien mit Filmmaterial über den Polizeieinsatz konfrontiert wurde, räumte auch er einige Ausrutscher der Polizei ein, stellte sich aber gleichzeitig hinter seine „Sicherheitskräfte“. Er machte die Student*innen für die Gewalt verantwortlich und warf ihnen vor, daß sie die Polizeistation stürmen und einen Märtyrer aufbauen wollten. „Das Beste, um das zu verhindern ist, alle zu verhaften, nur so passiert den Leuten nichts und auch sonst nichts Schlimmes“, meinte Duhalde gegenüber der Presse. Auch Polizeichef Pedro Klodcyk sah keinen Anlaß zur (Selbst-)Kritik. Er gilt als enger Vertrauter von Gouverneur Duhalde und gleichzeitig als Nachfolgekandidat für den Sicherheitschef Piotti, falls dieser zu wichtigeren Aufgaben befördert wird. Beide zusammen sind jetzt vom Gouverneur mit der Untersuchung der Vorfälle betraut worden.

Am Mittwoch demonstrierten in La Plata etwa 2.500 Menschen gegen den Polizeieinsatz. Die Polizei hielt sich im Hintergrund und es kam zu keinen Zwischenfällen. Die Mütter von der Plaza de Mayo haben Anzeige erstattet, damit gegen die Verantwortlichen in der Polizeiführung ermittelt wird. Die Oppositionsparteien, StudentInnenorganisationen und weite Teile der argentinischen Gesellschaft haben die Repression gegen die Student*innen einhellig verurteilt. Ein Gericht in Buenos Aires gab 24 Stunden nach dem brutalen Polizeieinsatz einer Klage gegen das „Gesetz für die höhrere Bildung“ recht und erklärte einige Artikel dieses umstrittenen Gesetzes als verfassunswidrig.

Einen weiteren Tag darauf wurde ein 36jähriger Mann in Buenos Aires von der Polizei erschossen, als er seine zweijährige Tochter in rasanter Fahrt im Taxi zur Notaufnahme ins Krankenhaus bringen wollte. Der Wagen wurde – wahrscheinlich wegen überhöhter Geschwindigkeit – von einer Funkstreife verfolgt. Die Polizisten schossen auf das Taxi. Roberto Roldan, Vater von neun Kindern, wurde tödlich getroffen. Ähnliche Fälle kommen in Argentinien immer häufiger vor, zumeist richtet sich die selektive Repression vor allem gegen Jugendliche und die sogenannten Minderheiten und Randgruppen (Obdachlosee, Bettler*innen, Ausländer*innen, Drogenabhängige etc.) in der Gesellschaft. Menschen, die kaum Möglichkeiten haben, sich Gehör zu verschaffen. Untersuchungen verlaufen darum auch in der Regel im Sande oder enden bestenfalls mit einer harmlosen Abmahnung der Polizist*innen.

Präsident Menem kann der Presserummel über die Repression in der Provinz seines Parteifreundes Duhalde nicht sehr recht sein. Er bereitet gerade einen offiziellen Staatsbesuch in Frankreich vor und mußte bereits Fregattenkapitän Alfredo Astiz aus der Militärführung beurlauben, weil dieser von der französichen Regierung beschuldigt wird, für den Mord an zwei französichen Nonnen verantwortlich zu sein. Alice Dumont und Leonie Duquet waren während der Militärdiktatur verschleppt und umgebracht worden. Astiz („der Todesengel“) war damals Mitglied der Aktionsgruppe 322 des berüchtigten Folterzentrums in der Mechanikerschule der Marine (ESMA). Er ist in Frankreich in Abwesenheit wegen Entführung und Folter verurteilt worden. Astiz, der bis Januar ranghoher Militär der argentinischen Marine war, ist ebenfalls verantwortlich für den Mord an Dagmar Hagelin. Sie war während der Militärdiktatur zunächst entführt und gefoltert worden. Astiz hatte einer Freundin gegenüber zugegeben, die Schwedin persönlich durch einen Kopfschuß ermordet zu haben. Die französiche Regierung hatte zur Auflage von Menems Staatsbesuches gemacht, daß zuvor der berüchtigte Militär aus seinen Ämtern entfernt werde. (Quellen: El Tribu FM; Buenos Aires, pagina 12; Red wamani)

URUGUAY

Warnstreik im Bausektor

(Montevideo, Februar 1996, comcosur-POONAL).- Die Mitglieder der Bauarbeitergewerkschaft legten für 24 Stunden die Arbeit nieder, nachdem erneut ein Todesfall in ihrer Branche bekannt wurde, diesmal in der Provinz Salto. Auf das Fehlen selbst minimaler Sicherheitsbedingungen im Bausektor ist von Gewerkschaftsseite wiederholt hingewiesen worden, ohne daß etwas passiert wäre. Die Notwendigkeit Arbeit zu finden, bringt die Arbeiter dazu, trotz niedrigerer Sicherheitsstandards die Jobs anzunehmen. Während der ersten 18 Arbeitstage gab es in diesem Jahr bereits fünf Tote in der uruguayischen Bauindustrie.

PARAGUAY/URUGUAY

Hat Wasmosy 29 Millionen US-Dollar unterschlagen?

(Montevideo, Februar 1996, comcosur-POONAL).- Die uruguayische Tageszeitung „La República“ hat ein bis dahin geheimes Dokument veröffentlicht, das den paraguayischen Präsidenten Wasmosy für die Unterschlagung von 29 Millionen Dollar verantwortlich macht. Die Aktion habe den Namen „Operación Itaipú“ getragen. Das Thema ist in einem großen Teil der paraguayischen Medien tabu, fand jedoch aufgrund des Artikels in La República ein breites Echo. Die letzten Ausgaben der uruguayischen Tageszeitung sollen bei ihrer Ankunft in Asunción auf Regierungsanweisung beschlagnahmt worden sein.

GUATEMALA

Magischer Realismus am Verhandlungstisch?

(Mexiko-Stadt, 25. Februar 1996, Poonal).- Am 22. und 23. Februar fand in Mexiko-Stadt die erste Verhandlungsrunde zwischen Vertreter*innen der guatemaltekischen Regierung und der Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca, URNG, zum Thema „Sozio- ökonomische Aspekte und Agrarsituation“ statt. Die zweitägigen Gespräche, bei denen das Kalendarium für dieses Thema festgelegt wurde, vollzogen sich offensichtlich in einem von Optimismus und Euphorie gekennzeichneten Klima. Dergestalt, daß der ultrakonservative, neue guatemaltekische Präsident Alvaro Arzu, die Gelegenheit eines offiziellen Staatsbesuches bei seinem mexikanischen Amtskollegen Zedillo – dessen Beginn zufälligerweise mit dem Ende der Verhandlungsrunde Freitagabend koinzidierte – zu einem Gespräch mit Vertretern der URNG nutzte. Vertrauen sei jetzt das magische Wort, bedeutete Arzu daraufhin bei seiner Abreise am Montag der Presse. Auch die Führungsebene der URNG äußerte sich in Gestalt von Rolanda Moran auf der anschließenden Pressekonferenz in den euphorischsten Tönen und sprach von einem „historischen Zusammentreffen, das dem Vehandlungsverlauf die Dynamik zur Beendigung des internen bewaffneten Konfliktes verleihen würde.“ Darüberhinaus bezeichnete er die persönliche Anteilnahme Arzus als außerordentlich bedeutungsvoll für den guatemaltekischen Friedensprozeß. Nichtsdestoweniger scheint, zumindest den offiziellen Verlautbarungen der Verhandlungsparteien zufolge, „Beschleunigung“ eher der modus operandi zu sein. Eine Bereitschaft zu Eilfertigkeit, die angesichts der elemantaren noch ausstehenden Themen (u.a. die Entmilitarisierung) und eines bereits fünf Jahre währenden, von Stagnation gekennzeichneten Verhandlungsprozesses skeptisch stimmt. Das Außergewöhnliche dieses Zusammentreffens dürfte in erster Linie das Zusammentreffen der URNG mit Vertreter*innen der neuen Regierung gewesen sein, der vierten übrigens, mit der sie Verhandlungsgespräche führt.

Gleichwohl, in den vergangenen Wochen haben hinter den Kulissen einschneidene Veränderungen stattgefunden, gegebenenfalls erlauben selbige Wege zu bahnen, wo dies bisher nicht möglich gewesen ist. Gegebenenfalls. Reale Kräfteverhältnisse am Verhandlungstisch Die neue Zusammensetzung der offiziellen guatemaltekischen Verhandlungskomission, COPAZ, spiegelt, wie von allen Seiten übereinstimmend geäußert wird, analog zur neuen Regierung die realen Kräfteverhältnisse in Guatemala wider. Zunächst einmal der Präsident: Arzu stammt aus einer der fünf reichsten Familien Guatemalas, ergo repräsentiert sein Kabinett in erster Linie den guatemaltekischen Dachverband der Unternehmer*innen, CACIF. Infolgedessen wird wiederum die COPAZ quasi direkt vom CACIF gelenkt. Dies in Gestalt von zwei ehemaligen Finanzminister*innen, Richard Aitkenhead und Raquel Zelaya.

Leiter der COPAZ ist der Generalsekretär von Arzu, der auch inoffiziell als intellektueller Urheber des Regierungsvorschlags gehandelt wird, Gustavo Porras. Ein pikantes Detail dabei ist, daß Porras einst selbst Mitglied der URNG und Chefredakteur der Nachrichtenagentur „Noticias de Guatemala“ gewesen ist. (Interessant ist in diesem Kontext, daß auch Rigoberta Menchu während des Wahlkampfes Wohlwollen gegenüber der PAN signalisierte.)

Als militärischer Vertreter nimmt der neue Musterungsgeneral der Streikräfte (Inspector General del Ejercito) General Otto Prez Molina teil, dem, allgemeinen Einschätzungen zufolge, derzeit zweitmächtigstem Mann der Militärspitze, von der URNG als Hardliner eingestuft. Wie immer ist die Rolle der Streitkräfte bei den Verhandlungen einer der wesentlichsten Dreh-und Angelpunkte für deren Verlauf und Ergebnis. Umso interessanter sind die militärischen Umstrukturierungen, bzw. Säuberungen, wie sie im offiziellen Diskurs bezeichnet wurden, die in den vergangenen Wochen stattgefunden haben. Säuberungen innerhalb des Militärs Die militärischen Säuberungsaktionen, bei denen es offiziell um die Entfernung von korrupten und/oder in den Drogenhandel verwickelte Elemente ging, die in den ersten drei Regierungswochen Arzus stattgefunden haben (und in deren Verlauf so hochkarätige Generäle wie der ehemalige Verteidigungsminister Mario Enriquez und der ExGeneralstabschef Carlos Pineda Carranza sich unversehens im Ruhestand wiederfanden) wurden seit Dezember vorbereitet und und sind Ausdruck der seit langem bestehenden Konfrontation zweier divergenter Flügel innerhalb der guatemaltekischen Streitkräfte. (Dafür spricht auch die Tatsache, daß der bereits erwähnte General Otto Prez Molina nachweislich ebenfalls in den Drogenhandel verwickelt ist, er besitzt jedoch auch die uneingeschränkte Rückendeckung von 14 Militärbasen…)

Diese beiden Flügel lassen sich nach Einschätzungen der guatemaltekischen Nachrichtenagentur CERIGUA grob auf zwei Nenner bringen: Die Sektion, die in der Tradition des Putschistengenerals von 1982, Rios Montt steht, dem geistigen Vater einer der furchtbarsten Repressionswellen Guatemalas (einem Land, das traurige Rekorde in bezug auf blutige Epochen hält) und – und! – härtester Konkurrent von Arzu bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen; und der „Restrukturierungssektion“, die sich ab Mitte der 80er Jahre mit der Präsidentschaft des damaligen christdemokratischen Präsidenten Cerezo unter der militärischen Ägide von General Hector Gramajo (einst Lieblingskind des US-State Departments, bis seine nachweisliche Verwicklung in repressive Akte auch gegenüber US-Bürgern, wie z.B. der Entführung und anschließenden Folterung der Ordensschwester Dianna Ortiz ihn unhaltbar machten. Dies nur als kleiner Einschub, damit nicht der Eindruck entsteht, wir würden hier von „Bösen“ und „Guten“ reden – das Ziel ist dasselbe, nur die Strategien unterscheiden sich.) Im aktuellen Kontext ist der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Sektionen, daß erstere traditionell auf die militärische, letztere und derzeit tonangebende Sektion jedoch auf die politische Niederlage der URNG setzt. De facto hat diese Säuberungsaktion erstmal zwei Ziele erreicht: 1. Sie wird Anweisungen der USA gerecht und 2. hat den Montt-Flügel weitgehend entmachtet.

Das guatemaltekische Wochenmagazin „Crnica“ schreibt am 2. Februar, daß sich die Geister scheiden würden, ob die von Arzu durchgeführte militärische Neustrukturierung ein Akt der Revanche gegenüber seines politischen Kontrahenten Alfonso Portillo (die pensionierten Militärs gehörten zu seiner Lobby), oder ein strategisches Vorgehen hinsichtlich der Verhandlungen sei. Letzteres scheint unter vorstehend genannten Aspekten die wahrscheinlichere Option zu sein. Handelt es sich dabei doch um einen klugen Schachzug, die URNG in einem Bereich schlagen zu wollen, in dem sie noch keinen festen Boden unter den Füßen hat. Auch innerhalb der URNG wurden inoffiziell mehrfach kritische Stimmen laut, die die Wahlbeteiligung der Guerillafront an den Wahlen im vergangenen Jahr sowie insbesondere die Verlautbarungen von Pablo Monsanto, einem der drei Generalkommandanten der Guerilla, die Präsidentschaft für das Jahr 2001 anzustreben, als politisches Eigentor bezeichnen: legitimiert doch die URNG damit ein politisches System, das sie mehr als dreißig Jahre lang kritisiert und bekämpft hat. „Sozio-ökonomische Aspekte und Agrarsituation“ So betrachtet, wirken die euphorischen Äußerungen der URNG-Spitze leicht befremdlich. Und, um konkret an den Verhandlungstisch zurückzukehren, es sollte keineswegs aus den Augen verloren werden, daß das derzeitige Verhandlungsthema „Sozio-ökonomische Aspekte und Agrarsituation“, wie das Thema einer Agrarreform euphemistisch bezeichnet wird, einer der beiden Hauptgründe für die über dreißig Jahre währende militärische Auseinandersetzung ist. Allein das wochenlange Gerangel um bewußten Arbeitstitel spiegelt wieder, daß dieses Thema auch vierzig Jahre nachdem die USA die damals erfolgte sanfte Agrarreform als berechtigten Vorwand benutzt haben, um eine Invasion in Guatemala durchzuführen, nichts von seiner Brisanz und Aktualität verloren hat.

Ein weiteres Indiz dafür ist der Versuch des Nationalverbandes der Agröxportateure, CONAGRO, die COPAZ sowie die Nationale Versöhnungskomission, CNR vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig erklären zu lassen. Eine Bemühung, die das Verfassungsgericht am Vorabend der Verhandlungen abschlägig beschied; die aber das Klima wiederspiegeln, in dem dieses Thema in Guatemala diskutiert wird. Abgesehen davon, sitzen der URNG jetzt, wie bereits erwähnt, die Vertreter*innen jener Kaste der guatemaltekischen Gesellschaft als VerhandlungspartnerInnnen gegenüber, die traditionell, d.h. per Großgrundbesitz, das wirtschaftliche Monopol besitzen und die schwerlich daran interessiert sind, selbiges aufzugeben. Im Vorfeld der Verhandlungen, Ende des vergangenen Jahres, signalisierte die URNG die Bereitschaft den Vorschlag der Asamblea de la Sociedad Civil, ASC, bezüglich der sozio-ökonomischen Aspekte und Agrarsituation uneingeschränkt bei diesen Verhandlungen zu vertreten. Es bleibt abzusehen, in wieweit ihr das diesmal gelingt oder, um es ketzterischer zu formulieren, in wieweit ihre Spitzenvertreter überhaupt noch bereit dazu sind. Die Basis erwartet es jedenfalls von ihnen.

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