Poonal Nr. 070

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 70 vom 16.11.1992

Inhalt


ARGENTINIEN

HAITI

KUBA

GUATEMALA


ARGENTINIEN

Wird auch das Bildungssystem privatisiert ?

(Ecuador, November 1992, alai-POONAL).- Die neoliberale Regierungspolitik Argentiniens wirkt sich nun auch auf die Bildungspolitik aus. Der Staat soll sich nach den Plänen des Präsidenten aus dem Bildungssystem zurückziehen, Schulen und Hochschulen sollen privatisiert werden und deren Besuch nicht mehr kostenlos sein. Einen Gesetzesentwurf hatte die Regierung bereits vorbereitet, doch stieß das Vorhaben auf derart massiven Widerstand, daß sie die Pläne vorerst zurückgenommen hat. An zahlreichen Demonstrationen im ganzen Land nahmen über 100.000 Dozent*innen, Eltern und Schüler*innen teil. Von der sofortigen Umsetzung nahm die Regierung daraufhin Abstand, begraben hat sie die Pläne jedoch keineswegs, wie führende Politiker wiederholt versicherten.

Regierungspläne vorerst zurückgestellt, aber nicht begraben

Wenn das Gesetz verabschiedet werden sollte, wird es folgende Konsequenzen haben: Die Kindergärten verlieren ihren Charakter als vorbereitende vorschulische Bildungsstufe und sollen künftig von den Eltern weitgehend bezahlt werden. Die Grundschule, für die Schulpflicht besteht, wird zusätzlich die ersten zwei Schuljahre der weiterführenden Schule (Secundaria) umfassen. Sie ist nicht kostenlos, die Gebühren werden sozial gestaffelt. Zudem soll nach dem Willen der Regierung der katholische Glauben künftig stärker Eingang in die Unterrichtspläne finden. Das dritte bis fünfte Schuljahr der Secundaria wird durch „spezielle Institutionen“ erteilt, die Schulpflicht wird aufgehoben. Unternehmen sollen sich an der Finanzierung der weiterführenden Schulen beteiligen, sie bekommen Kredit- und Steuererleichterungen und können an der Ausarbeitung von Studienprogrammen teilnehmen. Gleichzeitig sollen die Schüler*innen in den Fabriken Praktika absolvieren, wodurch die Unternehmen wiederum kostenlose Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt bekommen. Die Universitäten will die Regierung gründlich umkrempeln. Sie sollen weitestgehend privatisiert werden und sich künftig aus eigenen Mitteln finanzieren. Das bedeutet zwangsläufig, daß die Student*innen für den Besuch bezahlen müssen: Eine akademische Laufbahn wird zu einem Privileg für Besserverdienende werden. Zudem soll auch gleich das System studentischer Mitsprache begraben werden. Die Studentenparlamente sollen nach den Plänen der Regierung abgeschafft werden.

Bildung – bald ein Privileg für die oberen Schichten?

Das Gesetzesprojekt, das bereits durch eine Kammer des Parlaments, den Senat, verabschiedet worden ist, überträgt die finanzielle Verantwortung für die Bildung den Provinzen. „Die Bildung steht unter der Verantwortung der Provinzen, der Gemeinden, der sozialen Organisationen und der Familie als natürlichem Agenten des Staates“. Insbesondere der beabsichtigte Rückzug des Staates aus der Erziehung und das Fallenlassen des Prinzips der kostenlosen Bildung stieß bei Kritikern auf heftigen Protest. Zudem werde durch die geplante Einbindung der Privatwirtschaft und die Betonung der katholischen Lehre die Unabhängigkeit der Bildung gefährdet. Die argentinische Zeitung „Madres de la Plaza de Mayo“ warf der Regierung vor, das „Erziehungssystem durch eine versteckte Privatisierung zu zerstören“. Eine Bildungsreform müsse sich an folgenden Grundsätzen orientieren: * Der Staat muß das Recht auf Erziehung garantieren. * Die Bildung muß kostenlos sein. * Die Schulen und Hochschulen müssen weltlich sein und die Ideen- und Glaubensfreiheit aller sichern. * Der Staat trägt die Verantwortung für die Finanzierung des Bildungssystems. Er muß eine angemessene Qualität garantieren und sicherstellen, daß alle Bevölkerungsschichten gleiche Bildungschancen besitzen. * Der Bildungssektor muß demokratisch strukturiert sein, die Beteiligten müssen auf die Entscheidungen Einfluuß nehmen können.

Walter Besuzzo, Mitglied der Vereinigung der Lehrer*innen und Erzieher*innen Argentiniens (CTERA), erkennt in den Regierungsplänen die Handschrift der Weltbank: Der Bildungsetat steht neben dem Sozial- und Gesundheitssystem stets an erster Stelle, wenn das Finanzinstitut hochverschuldeten Ländern Empfehlungen gibt, wie die staatlichen Ausgaben einzuschränken sind, damit Zinsen und Tilgungsraten gezahlt werden können. Der Gewerkschaftsführer Besuzzo räumt ein, daß die Regierung bislang dank einer obrigkeitsfreundlichen und korrupten Gewerkschaftsbewegung nur wenig Widerstand gegen die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik zu spüren bekam. Der Ausverkauf staatlicher Unternehmen und damit verbundene Massenentlassungen seien von den Gewerkschaften weitgehend hingenommen worden. Allerdings scheiterte die Regierung bisher bei dem Versuch, auch das Bildungssystem drastisch umzukrempeln. Ausgehend von der Forderung nach freiem Zugang zur Bildung und dem Erhalt staatlich finanzierter Schulen hat sich eine breite Oppositionsbewegung gebildet. Die LehrerInnengewerkschaften, sagt Walter Besuzzo, hätten die „konsequenteste Opposition gegenüber der Regierung eingenommen, seit Menem an der Macht ist“. Regierungsfreundliche Gewerkschaften Die Tatsache, daß die Gewerkschaft der Lehrer*innen und Erzieher*innen eine der wenigen Organisationen ist, die sich der drastischen Sparpolitik der Regierung zu Lasten der unteren Schichten widersetzt, hat mehrere Ursachen. Die Gewerkschaftsbewegung Argentiniens hatte insgeheim darauf vertraut, daß der Präsident die Lasten der Sparpolitik ausgewogen verteilen werde. Wenige Monate nach der Amtsübernahme Menems spaltete sich der Gewerkschaftsdachverband, die CGT, vorübergehend an der Frage, ob die Regierungspolitik gestützt werden solle. Es entstand die regierungsfreundliche CGT San Martín und die kritische CGT, die der Gewerkschafter Ubaldini anführte. Der Bildungssektor gehörte zu dieser Zeit der CGT Ubaldinis an. Die Oppositionellen innerhalb der Gewerkschaft ließen sich aber schon bald von einigen Zugeständnissen ködern und vereinigten sich wieder mit dem regierungsfreundlichen Flügel. Der gewerkschaftliche Dachverband verfolgte dann eine eigentümliche Strategie, um zumindest demonstrativ eine eigenständige Position zu bekunden: „Er drohte ständig mit Streik, führte ihn aber nie durch“, sagt Besuzzo. Zwar gab es weiterhin etliche Mitglieder, die eine härtere Gangart gegenüber der Regierung forderten, sie konnten sich innerhalb der CGT aber nicht durchsetzen. Die Lehrerinnen und Erzieher*innen entschieden sich ebenso wie die öffentlich Bediensteten, die Schiffsarbeiter*innen, die Journalist*innen, die Richter*innen und andere, sich nicht in die CGT einzureihen. Sie wollten unabhängig von den politischen Parteien und vom Staat sein und lehnten die Kompromißstrategie der CGT ab. Der Kongreß der Lehrer*innen lehnte den Anschluß an die CGT mit der Begründung ab, der Dachverband habe sich zum Komplizen der Regierung gemacht und vertrete nicht die Interessen der Arbeiter*innen. „Die Regierung ignoriert das Gesundheitswesen, die Bildung und die soziale Gerechtigkeit. In ihren Plänen sind 20 Millionen Argentinier*innen überflüssig,“ sagt Besuzzo.

Widerstand formiert sich

Nach Ansicht Besuzzos gibt es jedoch Anzeichen für die Bildung einer umfassenden sozialen Bewegung, obwohl die soziale Bewegung insgesamt noch sehr zerstreut ist. Vordringlichste Aufgabe sei es nun, die einzelnen Bewegungen zusammenzuführen: die Landarbeiter*innen, die eine Bodenreform forderten; Stadtteilinitiativen, die für ausreichend Trinkwasser und Strom kämpften; oder jugendliche Gruppen, die sich gegen polizeilichen Teror in den Randgebieten der Großstädte organisierten. Bis jetzt waren die verschiedenen Bewegungen unter sich isoliert. Aber der Kampf um die öffentlichen Schulen vereint die unterschiedlichen Bereiche und könnte vielleicht einen Konsens innerhalb der Volksbewegung schaffen. Walter Besuzzo meint, durch Forderungen wie den Zugang zur Bildung und den freien Zugang zur Information könnte sich eine ausgedehnte soziale Bewegung bilden. Der Verband der Lehrer*innen und Erzieher*innen CTERA könnte dabei eine Schlüsselrolle übernehmen, „weil der argentinische Dozent ein geübter Organisator ist. Er organisiert die geringen Mittel, er organisiert die Gemeinschaft und hat eine anerkannte und wichtige soziale Rolle. Wir bilden eine kulturelle und pädagogische Bewegung, um zu vermeiden, daß die einzige Bildung, die unsere Compañeros und Compañeras bekommen, die staatliche ist und damit wir Lehrer*innen anfangen, die Geschichte des Kampfes unseres Volkes mit der Erziehung zu verbinden,“ so Besuzzo.

HAITI

Arbeiter*innen auf Zuckerrohrplantagen verschleppt

(Port-au-Prince, 24. Oktober 1992, HIB-POONAL).- Männer aus der Dominikanischen Republik haben Haitianer*innen an der Grenze zwischen den beiden Ländern geködert und sie anschließend zur Zwangsarbeit auf Zuckerrohrfeldern verschleppt. Verschiedene Quellen wie etwa das Radio Metropole berichteten, die „Schlepper“ köderten Haitianer*innen aller Altersklassen mit dem Versprechen, sie bekämen hohe Löhne, und verschleppten sie anschließend auf die Plantagen. Tausende von Arbeiter*innen werden für die „Zafra“, die Zuckerernte, benötigt, die im November und Dezember eingebracht wird. Vor dem Staatsstreich hatte der dominikanische Präsident Joaquin Belaguer über 60.000 Haitianer*innen aus dem Land vertrieben. Grund dafür war, daß der haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide kein Abkommen unterzeichnen wollte, das der Dominikanischen Republik eine gewisse Anzahl von haitianischen Arbeiter*innen für die Zuckerrohrernte garantierte. Menschenrechtsorganisationen haben die Bezahlung der haitianischen Erntearbeiter*innen wiederholt „Sklavenlöhne“ bezeichnet.

KUBA

Embargo erschwert Zuckerernte

(Havanna, 10. November 1992, Prensa Latina-POONAL).- Gehemmt durch die Erweiterung der Wirtschaftsblockade Nordamerikas bereitet sich die kubanische Zuckerindustrie auf eine neue Zuckerernte und – produktion vor. Der Zucker ist traditionell das Rückgrat der Wirtschaft Kubas. Das Torricelli-Gesetz, das vom US-Kongreß verabschiedet wurde, verstärkt den Druck, mit dem der produktivste Zweig und Hauptdevisenbringer der Insel geschwächt werden soll. Diese Politik kostete die Insel in den vergangenen dreißig Jahren bereits drei Milliarden Dollar. Bei einer Produktion von 5,5 Millionen Tonnen Zucker jährlich war die Struktur dieser Industrie gegen Ende der fünfziger Jahre auf die Lieferung von Material und Technologie aus den Vereinigten Staaten aufgebaut, von wo aus sie mit Turbogeneratoren, Kesseln, Zentrifugen, Werkzeugmaschinen und Transportmitteln versorgt wurde. Die Abhängigkeit von den USA schloß auch die Lieferung von Metall, Brennstoff, Schmierstoffen und anderen Industriegütern mit ein. Auch Dünger, Insektenvertilgungsmittel, Chemieprodukte und Erntemaschinen kamen aus den Vereinigten Staaten.

Ausgaben um zwei Drittel reduziert

Seinerzeit hatte Washington mit über drei Millionen Tonnen Zucker den Hauptteil der kubanischen Zuckerproduktion abgenommen. Bereits vor Erlaß des Embargos Anfagn der sechziger Jahre nahmen die Vereinigten Staaten jedoch davon Abstand und die sozialistischen Länder Europas übernahmen nach und nach die Rolle des Handelspartners. Kubanische Quellen gehen davon aus, daß der ersatzweise Einkauf von Rohstoffen in den weit entfernten europäischen und asiatischen Märkten die Ausgaben um 30 Prozent erhöhte. Die globale Umgestaltung des Zweiges und die zusätzlichen Ausgaben durch die Behandlung, den Transport und die Zollrechte kosteten das Land mehr als 2,5 Milliarden Dollar. Vielen ist es angesichts der Engpässe beinah ein Rätsel, daß die Zuckerrohrernte dennoch eingefahren wird und nach wie vor ein wichtiges Element der kubanischen Wirtschaft ist. Jahr für Jahr erfüllen sich die pessimistischen Voraussagen der Gegner Kubas nicht, die in beträchtlichem Maße Hoffnungen auf den Zusammenbruch der Insel hegen. Es besteht kein Zweifel daran, daß das Land die Konsequenzen des Embargos und den Zusammenbruch seines Außenhandels, der abrupt mit dem Zerfall des Sozialismus in Europa begonnen hatte, überwinden muß, um zu überleben. Kuba nimmt in Bezug auf den Umfang der mechanisierten Zuckerrohrernte eine Spitzenposition in der Welt ein. Zu einem Großteil kann Kuba sich heute auf sich selbst verlassen: für 75 Prozent der Weiterverarbeitung kann die Insel selbst sorgen. Die Ergebnisse der Ernten der letzten beiden Jahre zeigen, was möglich ist. In diesem Jahr wurden unter schwierigeren Bedingungen als im Jahr zuvor sieben Millionen Tonnen Zucker geerntet – gerade 600.000 Tonnen weniger als im Jahr zuvor, und mit nur 30 Prozent der gewohnten Hilfsmittel. Trotz dieser Erfolge wird Washington die Daumenschrauben noch einmal anziehen. Die Zuckerindustrie der Insel bereitet sich darauf vor, einen neuen Kampf unter wahrscheinlich noch schwierigeren Bedingungen aufzunehmen. Noch glauben die kubanischen Expert*innen, die Schwierigkeiten überwinden zu können.

GUATEMALA

Attentat auf Journalisten

(Guatemala, November 1992, FELAP-POONAL).- Am 5. November verübten Unbekannte ein Attentat auf die Fernsehjournalisten Francisco Olmedo und Hector Rolando García von der Nachrichtensendung „Teleprensa“. Bewaffnete Männer beschossen die beiden Redakteure und raubten ihnen das Auto und Arbeitsunterlagen. Die Vereinigung der Journalist*innen Guatemalas (APG), Mitglied des Lateinamerikanischen JournalistInnenverbandes (FELAP), verurteilte das Attentat in einer Presseerklärung. In den letzten Monaten wurden guatemaltekische Journalist*innen wiederholt eingeschüchtert, bedroht und attackiert. Zwar hatte Präsident Jorge Serrano Elias in seiner Wahlkampagne versprochen, energisch gegen derartige Verbrechen vorzugehen, die Schuldigen blieben bislang jedoch stets unbehelligt. In einer Presseerklärung forderte die APG den Präsidenten auf, sein Wahlversprechen einzulösen und die Überfälle und Gewalttaten zu bekämpfen, die zahlreiche Opfer gefordert und ein Klima der Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung geschaffen haben.“ Weiter fordert der JournalitInnenverband den Menschenrechtsbeauftragten und den Generalstaatsanwalt auf, ihre Aufgaben endlich konsequent zu erfüllen und mehr VVerantwortung zu übernehmen. Die JournalistInnenvereinigung rief ihre Kolleg*innen auf, sich nicht einschüchtern zu lassen und den Auftrag zu erfüllen, den ihnen das guatemaltekische Volk „in rechtmäßiger Anwendung der weltweiten Menschenrechtserklärung“ erteilt hat. So müßten sie sich denjenigen entgegenstellen, die das Recht auf Information und Meinungsfreiheit nicht respektierten. Aus Protest gegen die Attentate rief die Vereinigung zu einer Demonstration am 18. November in Guatemala-Stadt auf. Präsident Serrano soll eine Protestnote überreicht werden. Der lateinamerikanische JournalistInnenverband FELAP solidarisierte sich mit den guatemaltekischen Kolleg*innen in einer Presseerklärung, die am 9. November veröfffentlicht wurde.

Flüchtlinge vor ungewisser Zukunft

(Guatemala, 11. November 1992, NG-POONAL).- Guatemala ist das Land Amerikas, in dem proportional zur Bevölkerung die meisten Indígenas leben. Die Unterwerfung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung bestimmt in dem kleinen zentralamerikanischen Land weiterhin die Gegenwart. Denn selbst 500 Jahre Kolonisierung durch die europäischen Eroberer vermochten nicht, die Identität der guatemaltekischen Maya-Völker zu zerstören. Die Indígenas kämpfen noch 500 Jahre nach dem Beginn der Unterwerfung für die Rückgabe des Landes, das ihnen geraubt wurde. Sie versuchen, eine einheitliche Bewegung aufzubauen, um Auswege aus der Armut zu finden und ihre Kultur und ihre Traditionen zu erhalten. Seit dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts wurden die Indigenas von ihren Ländereien vertrieben. Die Eroberer besetzten das Land und drängten der Neuen Welt das europäische Feudalsystem auf und preßten die Bevölkerung in sklavenähnliche Abhängigkeit. Viele wurden auf kleine und karge Äcker abgedrängt, die das Überleben kaum sicherten, weswegen sich ein Großteil als Lohnarbeiter*innen auf den Plantagen verdingen muß. Die Bevölkerung wächst an, die Armut verschlimmert sich, da die Parzellen in immer kleinere Einheiten aufgeteilt werden.

Die lange Tradition der Vertreibungen

Mit Ausnahme der Phase von 1944 bis 1954, als reformorientierte Regierungen grundsätzliche Veränderungen anstrebten (Landreform), standen die Regierungen und die Streitkräfte ganz im Dienste der Agraroligarchie, die gierig die weitere Ausdehnungen ihrer Ländereien betrieb. Die Vertreibungen und der Terror erreichte Anfang der achtziger Jahre einen Höhepunkt, als 440 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden und zehntausende vor dem Terror der Armee flüchteten: über die Grenze in das benachbarte Mexiko oder innerhalb Guatemalas in das unwegsame Hochland. Der Terror gegen die indigenen Völker rief indes immer auch deren Widerstand hervor. Die Flüchtlinge im guatemaltekischen Hochland schlossen sich zu sogenannten Widerstandsdörfern zusammen. Im Altiplano des Westens und im Norden des Landes versuchten sie, Formen der kollektiven Organisation zu finden, um an der Politik beteiligt zu werden. Aufgrund der kommunalen und religiösen Gefüge der Völker und des wachsenden politischen Bewußtseins wurden tausende von Indígenas als „subversiv“ verdächtigt und verfolgt. Die Armee bekämpfte und bekämpft die sich organisierende Bevölkerung mit dem Argument, sie arbeite mit der Guerilla zusammen. Die Streitkräfte bauten (nach dem Vorbild der USA in Vietnam) sogenannte Modelldörfer auf, die völlig unter Kontrolle der Militärs standen und der Guerilla die soziale Basis auf dem Land entziehen sollte. Die meisten vertriebenen Indígenas leben in ländlichen Gebieten und bis heute leidet die Bevölkerung weiter unter der Repression durch das Militär. Die Menschen, die in von der Armee kontrollierten Gebieten leben, werden in paramilitärische Zivilpatrouillen (PAC) gezwungen, die die Zivilbevölkerung in Schach halten sollen. Offiziell ist die Teilnahme an ihnen freiwillig, tatsächlich aber werden die Mitglieder zwangsrekrutiert. Viele Indígenas sind vor Armut und Gewalt in die Städte geflüchtet. Sie arbeiten als Hausdiener*innen, sind jedoch oft unterbeschäftigt, viele müssen betteln, um zu überleben. Tausende Flüchtlinge in Mexiko hoffen, von Januar nächsten Jahres an in ihre Heimat zurückkehren zu können. Bislang sind die Bedingungen jedoch nicht geklärt, die Regierung hat bislang keinerlei Garantien für eine sichere, gemeinsame Rückkehr der Flüchtlinge und die Rückgabe der Ländereien, von denen sie vertrieben wurden, abgegeben. Die Flüchtlinge und die innerhalb des Landes Vertriebenen fassen sich als Teil der Volksbewegung in Guatemala auf und fordern neben der Rückgabe des Landes eine allgemeine Demokratisierung. Hierfür scheint es unausweichlich, die zivilen Sektoren an den Verhandlungen zwischen der Regierung, dem Militär und der Guerilla über ein Ende des Bürgerkriegs zu beteiligen.

Parlamentarier: Belice gehört zu Guatemala

(Guatemala, 6. November 1992, Cerigua-POONAL).- Präsident Jorge Serrano hat mit der Anerkennung des benachbarten Belice als unabhängigem Staat Verwirrung im guatemaltekischen Kongreß hervorgerufen. Die Parteien kritisierten die Erklärung und bezeichneten sie als Verletzung der guatemaltekischen Verfassung. Seit 114 Jahren gehört Belice nicht mehr zu Guatemala. Bis 1981 war es britische Kolonie, die Vereinten Nationen haben vor elf Jahren die Unabhängigkeit Belices anerkannt. Doch jetzt ist die Souveränität des kleinen zentralamerikanischen Landes plötzlich Thema eines Konflikts im guatemaltekischen Parlament. „Serrano muß zugeben, daß seine Berater ihn dazu gebracht haben, einen Irrtum zu begehen,“ erklärte der Abgeordnete Francisco Reyes. Die Diskussion über die Souveränität und Unabhängigkeit von Belice ist absurd und anachronistisch. Sie dient den Konservativen dazu, von anderen, weit wichtigeren Themen abzulenken. So ist der Haushalt für 1993 noch immer nicht verabschiedet, die Preise für Grundnahrungsmittel schnellen in die Höhe, Menschenrechtsverletzungen sind nach wie vor an der Tagesordnung, die Friedensverhandlungen mit der Guerilla werrden durch die Kompromißlosigkeit von Regierung und Streitkräften blockiert.

Scheingefecht lenkt von drängenden Problemen ab

Doch statt sich der drängenden Probleme anzunehmen, entfachen rechtsgerichtete Politiker eine Debatte über die Unabhängigkeit eines selbständigen Staates. Der Abgeordnete Claudio Coxaj von der Christdemokratischen Partei Guatemalas behauptete allen Ernstes, die Bewohner*innen des Petén, die an der Grenze zu Belice leben, würden durch das englische Heer bedroht. Die guatemaltekische Armee müsse die nationale Souveränität gegen die äußere Bedrohung verteidigen, so Claudio Coxaj. Die Bevölkerung im Grenzgebiet werde an der Aussaat gehindert, dadurch werde das Überleben der Landarbeiter*innen gefährdet. Tatsächlich hatten sich einige kleine Gemeinden für einen Anschluß an Belice oder Mexiko ausgesprochen, weil sie sich von der guatemaltekischen Regierung sträftlich im Stich gelassen fühlen. Die Bevölkerung im nördlichen Grenzgebiet lebt in extremer Armut. Große Schäden hatten in diesem Jahr zudem heftige Regenfälle verursacht, die Regierung hatte die Hilferufe der Siedler*innen indes ignoriert. Serrano entgegnete seinen Kritiker*innen, die den Verzicht auf den Nachbarstaat als Verrat bezeichneten, er habe im Rahmen der Verfassung gehandelt. Das Scheingefecht geht nun in eine neue Runde, das Verfassungsgericht soll nun darüber befinden, ob die Regierung den Anspruch auf Belice fallen lassen darf. Doch unabhängig von der Entscheidung des höchsten Gerichtes: Selbst die reaktionärsten Nationalisten dürften kaum auf einem Anschluß des Nachbarstaates spekulieren.

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