Nach Olympia: Rio ist pleite, die Stimmung schlecht – und die Gewalt zurück

Von Andreas Behn

(Rio de Janeiro, 04. Dezember 2016, npl).- Wer heute noch den olympischen Geist in Rio de Janeiro sucht, findet ihn auf der neuen Flaniermeile im Stadtzentrum. Bewohner*innen wie Tourist*innen haben den knapp drei Kilometer langen Olympia-Boulevard am früher gar nicht zugänglichen Ufer der Baia de Guanabara ins Herz geschlossen. Während der Rest des Zentrums nach Arbeitsschluss und an Wochenenden meist verwaist, tobt am einstigen Boulevard Olímpico das Leben. Treffpunkt ist der großzügige Maua-Platz vor der Silhouette des futuristischen Morgen-Museums, wo am letzten Wochenende ein afrobrasilianisches Festival Tausende Besucher *innen anzog. Rechts davon skaten Scharen junger Leute in Richtung historischer Stadtkern an der Praça XV, vorbei am großen Fackelschaft des Olympischen Feuers, das vor 100 Tagen erlosch.

Erste Bauruinen

Links geht’s an renovierten Speichergebäuden und riesigen Graffitis entlang. Kulinarische Stände und ein Vinylplatten-Festival laden zum Verweilen ein. Alle zehn Minuten summt die moderne Straßenbahn vorbei und erinnert daran, dass Olympia den Bewohner*innen von Rio als ein Projekt der Stadterneuerung und besseren Verkehrsmittel schmackhaft gemacht wurde. Doch auch das kleine post-olympische Idyll an der Praça Maua ist noch verbesserungswürdig: Vor der Straßenbahn fahren hupende Polizist*innen auf Motorrädern, um das Flaniervolk von den Gleisen zu scheuchen.

Der Blick hinter die Kulissen ist schon von hier aus möglich. Das ganze Hafenviertel sollte mit olympischem Schwung revitalisiert werden. Ein Hochhaus hinter den Speichern scheint fertig, ein zweites sieht schon jetzt wie eine Bauruine aus. Die Baupläne für einige Trump-Tower sind längst eingemottet. Ein erstes Teilstück der zweiten Straßenbahnlinie soll zwar im Dezember eingeweiht werden, doch es ist zu spüren, dass jetzt Stillstand herrscht.

Korruptionsskandale und leere Stadtkassen

Rio – also die Stadt und der gleichnamige Bundesstaat – ist pleite. So pleite, dass der Bund letztens jegliche Finanzhilfen aussetzte, bis der Bundesstaat Rechenschaft über seine Ausgaben ablegt. Lehrer*innen und viele weitere Staatsangestellte bekommen ihre Gehälter erst mit wochenlanger Verspätung ausgezahlt. Es wird gestreikt und protestiert. Die Abstimmung über ein rigides Sparpaket musste mehrfach verschoben werden, da aufgebrachte Menschen das Stadtparlament belagerten.

Die Stimmung ist miserabel. Nicht nur wegen der schweren Wirtschaftskrise, die Brasilien seit fast eineinhalb Jahren fest im Griff hat und die Jahre des Booms, mit erheblichen Einkommenszuwächsen, vergessen macht. Arbeitslosigkeit und Einsparen wo es nur geht, steht jetzt auf der Tagesordnung. Ein Blick auf die Lokalpolitik lässt nichts Gutes ahnen: Zwei ehemalige Gouverneure von Rio de Janeiro wurden in den letzten beiden Novemberwochen wegen Korruptionsvergehen festgenommen – zuerst Anthony Garotinho und kurz darauf Ségio Cabral, der bis Ende 2014 im Amt war. Letzterer ist mit zahlreichen Mitangeklagten bis heute hinter Gittern. Er soll im Rahmen des Korruptionsskandals um den Ölriesen Petrobras ein weitverzweigtes Netzwerk zum Einheimsen von Bestechungsgeldern unterhalten haben.

Auch der hemdsärmelige Bürgermeister Eduardo Paes, der die Olympischen Spiele als Sprungbrett für eine spätere Präsidentschaftskandidatur nutzen wollte, ist in Ungnade gefallen. Sein Kandidat für die Nachfolge im Rathaus kam im Oktober nicht einmal in die Stichwahl.

„Falscher Moment“ für das weltgrößte Sportspektakel

Es gewann der höchst umstrittene Pastor Marcelo Crivela, dessen evangelikale Überzeugungen so tief sitzen, dass er früher unverhohlen gegen Schwarze, Schwule und auch Katholik*innen hetzte. Dass er mit deutlicher Mehrheit, vor allem unter der armen Bevölkerung, gewählt wurde, passt zwar in den Zeitgeist der Welt – Rio bringt dies aber kaum die notwendig Stabilität: „Schluss mit den Bauarbeiten“ war einer seiner Wahlkampfslogans, der deutlich macht, dass nach Fußball-WM und Olympia kein Geld mehr in die vielen halbfertigen Infrastrukturbauten gesteckt wird.

Dennoch kann nicht von nacholympischer Katerstimmung gesprochen werden. Der Abschwung und vor allem die handfeste politische Krise seit 2015 hielten Brasilien damals derart in Atem, dass die Spiele samt ihrer extrem teuren Eintrittskarten für die meisten Brasilianer*innen nicht viel mehr als eine nette Ablenkung waren. Sogar Paes sprach damals vom „falschen Moment“ für das weltgrößte Sportspektakel. Schon in der Woche nach dem Ende der Spiele enthob der Senat Präsidentin Dilma Rousseff endgültig ihres Amtes. Ihr bisheriger Vize Michel Temer, der schon bei der Eröffnungsfeier gnadenlos ausgepfiffen wurde, übernahm ihr Amt und vollzog seither mit einem rechtskonservativen Kabinett eine politische Kehrtwende. Rousseff und ihre Arbeiterpartei PT sprechen von einem parlamentarischen Putsch, beide Lager fahren einen deutlichen Kollisionskurs.

Parque Olímpico: millionenschwere staatliche Zuschüsse für private Verwertung

Gut 30 Kilometer vom Zentrum entfernt wirkt der einstige Olympiapark verlassen. Hohe Absperrgitter verriegeln nach wie vor das Gelände auf einer Lagunen-Halbinsel im Stadtteil Barra da Tijuca. Von der Armensiedlung Vila Autódromo, die dem Sportanlagen-Gelände weichen musste, stehen nur die wenigen Neubauten, die die kämpferischen Bewohner*innen gegen die Stadtverwaltung durchsetzten. Breite Schnellstraßen und endlose Bürgersteige prägen das Areal. Im Gegensatz zu einigen WM-Stadien, die kaum genutzt in der Landschaft stehen, gibt es für den Olympiapark ein Nutzungskonzept. Einige Hallen sollen abgebaut und in der Nähe als Schulgebäude neu entstehen. Die restlichen Spottstätten sollen in Zukunft für Trainingszwecke und das Gelände für Musikveranstaltungen wie „Rock in Rio“ genutzt werden. Umgerechnet 100 Millionen Euro muss die bankrotte Stadt für Ab- und Umbau noch bezahlen.

Neue U-Bahn-Linie

Die Ausschreibung, wer das Gelände die nächsten 25 Jahre ökonomisch verwerten darf, wurde Ende November zum fünften Mal verschoben. Ähnlich wie beim legendären Maracanã -Stadion, in das der Staat horrende Summen investierte und den Folgegewinn nun privaten Unternehmen überlässt, dürfte auch der Parque Olímpico unterm Strich ein Zuschussgeschäft sein.

Immerhin, die neue U-Bahn-Linie nach Barra funktioniert, und die meisten für Olympia eingerichteten Expressbus-Linien auf eigenen Trassen sind in Betrieb und so beliebt, dass sie meist überfüllt sind. Von Barra geht’s jetzt ohne Umsteigen direkt bis zum internationalen Flughafen. Dieser aber hat den Ausbau für den kurzen Olympia-Ansturm nicht gut überstanden: Der zur WM notdürftig, aber mit hohen Kosten renovierte Terminal 1 wird im Dezember stillgelegt.

Die Gewalt ist zurück

Das schlimmste Szenario für die Menschen in Rio ist allerdings die Rückkehr der Gewalt. Die Bandenkriege in Armenvierteln, an denen verschiedene Drogengangs, die Polizei und paramilitärische Milizen mitmischen, sind im ganzen Stadtgebiet wieder aufgeflammt. Dabei schien der Versuch, schon Jahre vor der WM mit einer weniger brutalen Befriedungspolizei und ständiger Präsenz in Favelas die Gewalt einzudämmen, erstmals erfolgversprechend. Doch das Versprechen der Behörden, der Polizeipräsenz auch mehr soziale Infrastruktur wie Schulen und Gesundheitsposten folgen und die Bewohner*innen an ihrer Zukunftsplanung teilhaben zu lassen, wurde nicht gehalten.

Jetzt ist die Gewalt, die jahrelang in die Außenbezirke verdrängt war, in die schicken Strandviertel zurückgekehrt. In Favelas in Copacabana, Ipanema und anderen Stadtteilen kommt es regelmäßig zu Schießereien und immer wieder zu Todesopfern. Von Januar bis September zählte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 4.482 Tote durch Gewalteinsatz. Mindestens 635 dieser Opfer kamen durch Polizeischüsse um. Unter den Polizisten, die auch um ihren Lohn bangen, gab es 26 Todesopfer bei Schießereien.

Rache-Aktion der Polizei

Trauriger Höhepunkt bisher war der Absturz eines Polizeihubschraubers während eines Gefechts in der berühmten Favela Cidade de Deus (City of God), bei dem vier Uniformierte starben. Einen Tag später wurden sieben junge Männer am Rande des Armenviertels tot aufgefunden. Die Angehörigen sprechen von einer Hinrichtung aus Rache durch die Polizei – durchaus üblich in Brasiliens Großstädten. Aus der Favela stammt die Judokämpferin Rafaela Silva, die umjubelte erste Goldmedaillengewinnerin Brasiliens von Rio.

Als Kind sei sie vor Gewehrkugeln weggelaufen, jetzt flüchte sie vor den Fotograf*innen, die sie und ihre Medaille fotografieren wollen, feierte Silva im August ihren Sieg. „Die Medaille ist die beste Antwort auf die Gewalt“, sagte Silva selbstbewusst, auch weil sie 2012 in London nach einem Patzer rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt war. Die Illusion des Sports als einem gesellschaftlichen Allheilmittel, die die Presse damals genüsslich verbreitete, währte in Silvas Heimat nicht lange.

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