Kommunale Oberstufe: Eltern ergreifen die Initiative

Von Knut Hildebrandt

Marcelino Nolasco
Marcelino Nolasco an der Grenze zwischen Oaxaca und Veracruz. Foto: Copyright 2016 – Knut Hildebrandt

(Oaxaca-Stadt, 8. Juni 2017, npl).- Das Recht auf Bildung wird durch die mexikanische Verfassung garantiert. Den freien Zugang zu Bildung hat der mexikanische Staat sicher zu stellen. Doch wie das genau zu geschehen hat, darüber gehen die Meinungen auseinander – vor allem in den ländlichen Gebieten. Die Regierung setzt auf zentrale Internatsschulen, auf die Kinder und Jugendliche aus geografisch abgelegenen Gemeinden gehen sollen. Doch dagegen regt sich Widerstand. Vor allem im indigen geprägten Süden des Landes entstehen Initiativen zur Gründung von kommunalen Schulen, die fest in die Gemeinden integriert sind.

Eigentlich wollte Gualberto Jacinto nur die Weihnachts-Feiertage bei seinen Eltern verbringen, als er im Dezember 2015 nach San Francisco La Páz zurück kehrte. In dem kleinen Dorf im letzten Winkel des südmexikanischen Bundesstaates Oaxaca ist Gualberto aufgewachsen. Nach erfolgreichem Abschluss des Betriebswirtschafts-Studiums war er nun auf Arbeitssuche in der Stadt. Doch dann entschied sich Gualberto in seinem Heimatdorf zu bleiben. Denn damals entstand die Idee eine gymnasiale Oberstufe in San Francisco zu gründen. Und weil er einer der wenigen im Ort mit guter Ausbildung war, hat man ihn gebeten dabei zu helfen.

Heute arbeitet Gualberto Jacinto als Lehrer am neu gegründeten Bachillerato Comunitario. Eine weiterführende Schule gab es in seiner Jugend in San Francisco noch nicht. Um das Abitur machen zu können, hatte Gualberto sein Dorf und seine Familie verlassen. Jugendliche, die nicht wie er über Jahre von ihren Familien getrennt leben wollen, hatten bislang nur eine Alternative. Sie besuchten die gymnasiale Oberstufe im zehn Kilometer entfernten Nachbarort. Doch das war von einem Tag auf den andern nicht mehr möglich.

Abgeschiedenheit provoziert gewalttätige Landkonflikte

Río Uxpanapa
Der Río Uxpanapa fließt an San Francisco vorbei Durch den Chimalapas. Foto: Copyright 2016 – Knut Hildebrandt

San Francisco La Páz liegt am Rande des Chimalapas, des größten, zusammenhängenden Regenwaldgebietes Mesoamerikas. Bis zur Grenze mit den Nachbar-Bundesstaaten Chiapas und Veracruz sind es nur wenige Kilometer. Matias Romero, die nächst größere Stadt in Oaxaca, ist dagegen eine halbe Tagesreise entfernt. Und das bringt nicht nur Probleme für die Absicherung des Rechts auf Bildung mit sich. Denn immer wieder dringen Viehzüchter und Holzfäller aus den Nachbarstaaten in den Chimalapas ein. Dadurch entstehen Landkonflikte, die nicht selten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen.

Am 24. Dezember 2015, drang eine Gruppe von Siedler aus Veracruz in das Gebiet von San Francisco ein. Sie brachten ihre Besitztümer, aber auch Lebensmittel und Waffen, mit. Der so beginnende Landkonflikt sollte Gualberto Jacintos Leben verändern. Denn nachdem die Bewohner*innen San Franciscos die Anführer der Gruppe verhaftet hatten, wurden sie durch die Siedler bedroht. Wochenlang konnten die Dorfbewohner*innen ihr zu Hause nicht verlassen.

Allein gelassen vom Staat ergreifen Eltern die Initiative

Weil sie Angst um ihre Kinder hatten, beschlossen besorgte Eltern eine gymnasialen Oberstufe in San Francisco aufzubauen. So begründet Dolores Chavira Martínez die Initiative zur Gründung des Bachillerato Comunitarios in San Francisco. Denn einige der Jugendlichen gingen in Poblado Catorce, in Veracruz auf die Schule. Aufgrund der Drohungen der Siedler konnten sie das Dorf nicht verlassen und somit auch nicht am Unterricht teilnehmen. Und der mexikanische Staat ließ die Menschen wieder einmal mit ihren Problemen alleine. Wie schon die Jahre zuvor ignorierte die Schulbehörde die Bitte, eine weiterführende Schule im Ort zu gründen.

Unterstützung fanden die Eltern beim Centro de Derechos Humamos Tepeyac. Die Nichtregierungsorganisation steht indigenen Gemeinden zur Seite, die sich gegen Angriffe auf ihr Territorium zur Wehr setzen. Sie begleitet die Comunidades unter anderem bei der Gründung unabhängiger, kommunaler Schulen.

Marcelino Nolasco ist von Beruf Lehrer und arbeitet als Koordinator für das Menschenrechtszentrum Tepeyac. Er stellte einen Kontakt der Elterninitiative zu einer Trägerorganisation her, die der Schule den notwendigen rechtlichen Rahmen geben kann. Und er half, eine Gruppe qualifizierter Lehrer*innen aufzubauen, die in San Francisco unterrichtet. Alle Lehrer*innen stammen aus der Gemeinde und sprechen die lokale Sprache.

Selbstverwaltung stärkt Schule und Dorf

Sitzung des Schulkomitees
Schüler, Eltern und Lehrer diskutieren mit VertreterInnen der Gemeindeverwaltung über den Schulneubau bei einer Sitzung des Schulkomitees in San Francisco La Páz – Copyright Knut Hildebrandt

Obwohl Sonntagmorgen ist, kommen die neunzehn Mädchen und Jungen, welche die neu gegründete Oberstufe von San Francisco besuchen, in die Schule. Denn es wurde eine Versammlung des Schulkomitees einberufen. Vertreter*innen der Gemeinde-Verwaltung wollen mit den Jugendlichen und ihren Eltern über den anstehenden Schulneubau reden. Zur Zeit dient die alte Dorfkapelle als provisorisches Schulgebäude. In ihr wurden eine Bibliothek und ein Computerraum eingerichtet. Und es gibt ein großes Klassenzimmer. Doch das wird bald zu eng, denn mit Beginn des neuen Schuljahres kommt eine zweite Klasse dazu.

Weil die kommunale Oberstufe fest in der Dorfgemeinschaft verankert ist, kann sie auf die volle Unterstützung der Gemeindeversammlung bauen, führt Marcelino Nalesco vom Menschenrechtszentrum Tepeyac als einen wichtigen Vorteil der vom Dorf getragen Schule an. Denn oft reicht die finanzielle Ausstattung der staatlichen Schulen nicht aus, um den Unterricht abzusichern. Doch die Unterstützung der Dorfgemeinschaft geht über rein organisatorische Fragen hinaus. Die Gemeinde nimmt auch Einfluss auf die zu vermittelten Lehrinhalte.

Nalesco erklärt weiter: „Eine der Stärken der kommunalen Oberstufen ist, dass die Lehrer Initiativen der Gemeinden aufgreifen. Sie integrieren deren traditionelles Wissen in den vom Lehrplan vorgeschriebenen Stoff. Das macht eine staatliche Schule nicht. Sie baut auf klassischen Frontalunterricht, auf den weder Eltern noch Dorfgemeinschaft Einfluss nehmen können.“

Der Staat geht in die Gegenoffensive

So viel Mitbestimmung stößt bei der staatlichen Schulverwaltung auf wenig Gegenliebe. Unmittelbar nach der Gründung des Bachillerato Comunitario kündigte sie an, ein Telebachillerato in San Francisco gründen zu wollen. Das ist eine gymnasiale Oberstufe mit eingeschränktem Lehrerstamm, an der die Schüler*innen mit Hilfe von Videomaterial unterrichtet werden. Marcellino Nolasco meint den Grund für den plötzlichen Sinneswandel der Schulbehörde zu kennen. Der Staat will seiner Meinung nach manipulieren und deshalb bestimmen, welche Lehrinhalte vermittelt werden. Deshalb auch die ganze Diskussion um die Reform des mexikanischen Bildungssystems. Nolasco zufolge verfolgt diese nur ein Ziel: die indigenen Völker in Schach zu halten.

Denn selbstbewusste, indigene Völker sind der mexikanischen Regierung von jeher ein Dorn im Auge. Sie hindern sie daran, ihre neoliberale Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Der Chimalapas, der Regenwald, in dem San Francisco liegt, lockt nämlich nicht nur illegale Holzfäller und Viehzüchter an. Unter ihm verbergen sich wertvolle Bodenschätze, für deren Abbau die Regierung gegen den Willen der hier lebenden Menschen Konzessionen vergeben hat. Und dagegen regt sich Widerstand.

Wie wichtig in diesem Zusammenhang das Bachillerato Comunitario ist, betont Schulgründerin Chavira Martínez noch einmal. Sie unterstreicht, dass die Jugendlichen jetzt nicht mehr das Dorf und ihre Familien verlassen müssen. Und das ist ein großer Gewinn für die Gemeinde. Denn es ist wichtig die Kinder im Ort zu haben, damit sie lernen ihr Land zu verteidigen.

Bachillerato ComunitarioDen dazugehörigen audio-Beitrag findet ihr hier.

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