Kleine Hände in Bewegung – Kinderarbeit in Uruguay (Teil I)

von Rafaela Lahore

Drei Stunden Schlaf

Es gibt die kleinen verschmutzten Hände, die nach verschiedenen Materialien suchen: nach Plastik, Papier und Karton. Andere bewegen sich in der Natur: Kleine Hände mit Schwielen, die Zuckerrohr schneiden, kleine Hände die grob den Boden bearbeiten oder nach Trauben, Kartoffeln und Tomaten greifen.

Gustavo tritt aus dem seitlichen Ausgang seines Hauses im Norden von Montevideo und kommt zum Treffen. Er gibt sich dabei locker und burschikos, ab und zu lacht er. Gustavo trägt ein rotes Fußballtrikot mit dem er sich vor diesem niedrigen schlichten Gebäude in neutralen Tönen von der Umgebung abhebt, wie ein Wesen von einem anderen Stern.

Gustavo ist vierzehn Jahre alt und seine Geschwister zählen zwei, vier, sieben, neun, elf, 13 und 15 Jahre. Sie alle leben mit den Eltern in einem Haus aus Spanplatten. Sie sagen, dass das elfjährige Mädchen bei der Großmutter lebe, da für sie kein Platz im Haus sei. Für die anderen ist auch kein Platz. Wenn man das Haus betritt, sieht man nicht, was vorhanden ist, sondern was fehlt: Es fehlt an Betten, Möbeln, Spielzeug und Platz. Aus dem Holz hat man große Löcher herausgesägt: Das sind die Fenster. Als Gardinen fungieren schwarze Schleier. Es gibt fast nichts Farbiges: Außer vielleicht ein Buggy auf dem Blechdach. Unter dem Dach hängt die Wäsche. Und wenn man noch weiter hinunter schaut – fällt der Blick auf den Lehmboden.

An diesem Tag erzählt Gustavo, dass er seit eineinhalb Jahren hilft, den LKW zu entladen, auf dem sich Obst und Gemüse befinden. Die Arbeit hat er auf Vermittlung seines Vaters bekommen, der im Großmarkt ‚Mercado Modelo‘ arbeitet. „Mein Vater ging dorthin, nahm mich einmal mit und ich bekam Arbeit. ‚Kannst du dich um die Kisten kümmern?‘ wurde ich gefragt. Und ich versuchte es. Zuerst ging es nicht, aber langsam gewöhnte ich mich daran“. Er arbeitet im Morgengrauen: Von zwei bis sechs Uhr morgens. Manchmal bleibt er sogar bis zum Mittag.


Der Schlaf scheint hinten anzustehen:

Bis wann schläfst du, wenn zu nicht zum Markt gehst?

Solange ich möchte.

Und wenn du zum Markt gehst, wie viele Stunden schläfst du täglich?

Drei Stunden.

Wirst du nicht müde?

-Nein, ich werde nicht müde, denn danach bin ich hellwach und gehe zum Fußballspielen. Ich schlafe ein Weilchen, mache verschiedene Arbeiten und danach gehe ich zum Markt.


„Ich verwende das Geld auch, um etwas Gutes für meine Geschwister zu tun“

Gustavo nimmt am Programm ‚Fútbol Callejero – Straßenfußball‘ teil, eine Initiative der 1989 in Uruguay gegründeten Nichtregierungsorganisation ‚Gurises Unidos‘, die sich für die Rechte von benachteiligten Kindern und Jugendlichen einsetzt, unter anderem durch Sport. Gustavo war schon immer mit dem Ball verbunden: „Was mir am meisten Spaß macht, ist Fußballspielen mit den Gurises. Dabei amüsiere ich mich wenigstens ein bisschen. Und so bin ich nicht den ganzen Tag auf der Straße“.

Gustavo erzählt, dass er selbst entscheidet, was er mit dem verdienten Geld macht. „Es kommt darauf an: Wenn ich 500 Pesos verdiene, gebe ich 200 meiner Mutter. Mit dem Rest kaufe ich Kleidung, Sportschuhe, das, was ich benötige. Ich verwende das Geld auch, um etwas Gutes für meine Geschwister zu tun: Wenn ihnen etwas für die Schule fehlt, bekommen sie es von mir. Meiner Mutter gebe ich manchmal, was ich möchte. Wenn sie nichts mehr zu Trinken hat, gebe ich ihr 200 Pesos und sage zu ihr: ‚Auf geht‘s, hole dir etwas‘“.

Gustavo begleitet seinen Vater auch bei dessen Tätigkeit – dem Sortieren von Abfall. Der Vater gibt zu: „Es ist riskant, sie mitzunehmen, da ich weiß, dass ich nicht mit ihnen auf dem Wagen sein kann. Zumindest bei der Statur von Gustavo und von Mario (dem älteren Bruder). Manchmal nehme ich sie mit, damit sie herauskommen, damit sie mir ein wenig helfen, so wie sie wollen… Sie bleiben im Wagen, während ich die Sachen einsammele. Plötzlich werden innen Flaschen geworfen“. Es scheint, als sei es manchmal schwierig, ‚nein‘ zu sagen: „Den Gurises gefällt es, wenn es nach ihnen ginge, würden sie den ganzen Tag im Wagen fahren“.

Mit Arbeitspapieren

Die Arbeitsaufsicht des Instituts für Kinder und Jugendliche INAU (Instituto del Niño y Adolescente del Uruguay) ist mit der Ausstellung von Arbeitsausweisen für Kinder und Jugendliche beauftragt. Um so ein Papier zu beantragen, muss man 15 Jahre alt sein (es gibt Ausnahmen). Vorgeschrieben folgende Arbeitsbedingungen: Es dürfen nur sechs zusammenhängende Stunden gearbeitet werden mit einer bezahlten Pause von 30 Minuten zwischen der dritten und der vierten Arbeitsstunde.

Im Jahre 2013 hat INAU im gesamten Land ungefähr 4.000 Arbeitserlaubnisse erteilt. Am begehrtesten waren dabei Papiere für die Arbeit im Servicebereich (normalerweise in Supermärkten oder in Schnellimbissen). Das Institut bestätigt, dass fast nie eine Erlaubnis abgelehnt werde. Und sollte ein Antrag gestellt werden, damit unangemessenen Arbeiten nachgegangen werden könne, versuche man, mit dem Unternehmen zu ‚reden‘, damit der oder die Jugendliche einer anderen Tätigkeit nachgehe.

Die Aufsichtsbehörde ist auch mit der Kontrolle der Kinderarbeit betraut. Dafür stehen zehn Inspektor*innen zur Verfügung – sechs davon in Montevideo. Sie führen Routineuntersuchungen durch und Nachkontrollen durch um sicherzustellen, dass die vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen eingehalten werden.

20.000 Kinder sind in Abfallwirtschaft beschäftigt

Bei der Abfallverwertung gibt es die schlimmsten Formen von Kinderarbeit in Uruguay. Laut Schätzungen des Ministeriums für soziale Entwicklung (Ministerio de Desarrollo Social MIDES) aus dem Jahre 2009 gibt es 20.000 Kinder oder Jugendliche im Land, die auf dem Gebiet der Müllsammlung beschäftigt sind. Die Arbeit des Müllsammelns besteht grundsätzlich aus zwei Phasen: Zuerst werden Materialien wie Karton, Papier, Plastik und Metall gesammelt. Dann werden die Materialien sortiert, um sie verkaufen zu können (eine Arbeit, die normalerweise in der Lagerhalle eines Stadtteils erfolgt). Aber es werden auch Kleidung und Lebensmittel für die eigene Familie gesammelt oder um diese auf Festen des Viertels zu verkaufen.

Die Kinder sammeln nicht nur – manchmal passen sie auch auf die Pferde oder den Wagen auf, reinigen das Grundstück oder helfen bei der Sortierung. Meistens ist die Müllverwertung Teil der Überlebensstrategie der Familien. Paradoxerweise sind die Kinder dann zwar sofort außerhalb der Risikobereiche (Probleme im Viertel, Drogenmissbrauch), gleichzeitig aber verschlechtert sich ihre körperliche Verfassung und ihre Ausbildung verzögert sich. Außerdem bedeutet die Arbeit mit dem Abfall, dass man Krankheiten, Infektionen und Schnittwunden ausgesetzt ist, ebenso wie Verkehrsunfällen.

Dies ist der erste Teil einer langen Reportage über Kinderarbeit in Uruguay, die am 16. September 2014 in der Zeitung la diaria veröffentlicht wurde. Weiterlesen? Hier geht es zu Teil II und Teil III.

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