Chile – ein Land erlebt sein Coming-out

von Julio Sánchez A.

(Concepción, 27. Juni 2011, Agencia Medio a Medio).- In unserem Land leben über 1,2 Millionen homosexuelle Männer und Frauen, darunter Linke genauso wie Konservative; einige sind katholisch, andere evangelisch, wieder andere haben keine Glaubensbindung. Am 25. Juni fand in Santiago de Chile die „Marcha de Orgullo“ statt. Mit ihrem Zug durch die Alameda, die Hauptstraße der Stadt, schrieben die über 30.000 homosexuellen und heterosexuellen Teilnehmer*innen Geschichte.

Bei dieser Demonstration handelte es sich nicht um eine gegen das System gerichtete Schwulenparade, sondern um einen Protestmarsch der chilenischen Gesellschaft mit der ausdrücklichen Forderung nach gleichen Rechten für alle. Ein detaillierter Blick auf die Ereignisse macht dies deutlich:

Gleichheit

So lautete der zentrale Kampfbegriff einer Stadt im Zustand einer Revolte, die von allen mitgetragen wurde. Ein Meer aus Fahnen und Spruchbändern forderte die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Liebe. Das Aufsehen erregende Outfit der Transsexuellen mit ihren hohen Absätzen diente als dekoratives, farbenfrohes Beiwerk für ein Ereignis, dessen Bedeutung sich bei weitem nicht in der bloßen Zurschaustellung von Identitäten erschöpfte. Die für jenen Samstagnachmittag angesetzte Demonstration besaß eine historische Tragweite. Diese war von größerer Bedeutung als die Aufsässigkeit des Movilh-Vorsitzenden Rolando Jiménez oder die Unterstützung einiger Parlamentarier*innen, die sich im Nordteil der Hauptstraße Alameda zu der Demonstration gesellt hatten, oder die Tatsache, dass die Eröffnungsansprache von dem Schriftsteller Pablo Simonetti gehalten wurde.

Gegen drei Uhr nachmittags war die Plaza Baquedano nicht wieder zu erkennen. Etwa 8.000 Demonstrant*innen hatten sich bereits um das Teatro de la Universidad de Chile herum versammelt, als die Auftaktkundgebung begann. Im Gewimmel aus Straßentheater, Mikrophonen und Redner*innen spielten Kinder unbekümmert auf dem Rasen des Parque Bustamante, während der homosexuelle Aktivist Víctor Hugo Robles, der Che Guevara der Schwulenbewegung, neue Mitglieder seiner Fangemeinde warb. Auch so bekannte Persönlichkeiten wie die Schauspielerin Elvira López, TV-Star und Schönheitskönigin Daniella Campos und Roberto Márquez, Mitglied der Band Illapu riefen und hörten Parolen. Eine vielfältige Menschenmasse, geeint unter einem gemeinsamen Leitspruch.

Inzwischen war die Zahl der Anwesenden auf das Doppelte angewachsen. Etwa 15.000 rüsteten sich zum Gehen, nicht ohne sich vorher ein paar Dosenbiere zu genehmigen, die auf dem Platz feilgeboten wurden, und sich mit den phantasievoll kostümierten Transsexuellen fotografieren zu lassen. Es war das erste Mal, dass Homosexuelle in dieser Stadt Geschichte schrieben. Geschichte schrieben sie deshalb, weil auch ganze Familien dabei waren, weil genauso viele Heterosexuelle wie Homosexuelle auf die Straße gegangen waren; Geschichte schrieben sie auch, weil es nur einige Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen wäre, sich diesen Raum zu nehmen und ein Konzept von Freiheit nach außen zu tragen, das sich so sehr von dem unterscheidet, was es bisher in Chile gegeben hat: ein Konzept der Vielfalt von Ideen und der Gleichheit von Rechten.

Vielfalt der Ideen, Gleichheit der Rechte

„Ich bin heterosexuell. Ich bin mit einer Freundin hergekommen. Wir haben hier diese Friedensfahne mitgebracht, und wir wollen, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben wie wir“, erklärt Liliana, eine Frau um die 60. „Bei dieser Parade geht es um Liebe und darum, dass diese Liebe genauso viel wert ist wie die Liebe zwischen meinem Vater und meiner Mutter“, erzählt ein junges Mädchen. „Ich finde es toll, dass in einem Land wie Chile solch eine Entwicklung möglich ist. Gestern fand die Parade in New York statt, jetzt fehlt nur noch Argentinien“, schwärmt der 24-jährige Renato. Er ist mit seinem Freund zur Demonstration erschienen.

Etwa eine Stunde später, gegen 16:30, setzte sich der Marsch auf einer der Hauptstraßen Santiagos in Bewegung. Die Teilnehmerzahl war mittlerweile auf über 25.000 angewachsen. Niemand war vermummt, es gab keine Sprühereien, und es flogen auch keine Steine. Der riesige bunte Zug bot einen geradezu magischen Anblick; selbst das Wetter schien sich mit dem Anliegen der Demonstrierenden solidarisieren zu wollen. Es war, als hätte die Utopie der Freiheit plötzlich lebendige Gestalt angenommen und sich dabei doch ein poetisches Antlitz bewahrt, das selbst die Beschreibungen in den Romanen des schon erwähnten Pablo Simonetti in den Schatten stellte.

Der Marsch durch die Innenstadt Santiagos war in jeder Hinsicht eine Parade der Vielfalt, verbindend und geprägt von Toleranz. Wo zwei Frauen intensiv knutschten, neben sich eine heterosexuelle Kleinfamilie, der Vater mit dem etwa dreijährige Kind auf den Schultern. Es ist offensichtlich, dass die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung als ein Thema von gesamtgesellschaftlicher Relevanz betrachtet wird, und nicht als Problem, das ausschließlich Lesben und Schwule angeht. Was sich in dieser Demonstration ausdrückte, war nicht der Protest von Homosexuellen, sondern die Forderung der Chileninnen und Chilenen nach Gleichheit. Entsprechend groß war die Beteiligung. Die Behörden werden diesen Erfolg berücksichtigen müssen. Sollten sie es ignorieren, werden sie Probleme bekommen.

„Ich bin rechtskonservativ, und ich bin homosexuell!“

Auch die christdemokratische Senatorin Ximena Rincón hatte es sich nicht nehmen lassen, bei der Demonstration zu erscheinen. „Wir müssen uns dieses Themas annehmen, innerhalb der Partei und innerhalb der Gesellschaft unseres Landes.“ Oscar Rementería, aktives Mitglied der konservativen Partei Renovación Nacional und ehemaliger Vorsitzender der Jungkonservativen, hatte sich ebenfalls bewusst für die Teilnahme an der Parade entschieden: „Als ich noch Vorsitzender der Jungkonservativen war, konnte ich nicht offen dazu stehen, dass ich einen Freund hatte. Ich glaube aber, dass meine Partei ihren Wertekanon zur politischen Praxis machen und für die Gleichheit aller Menschen eintreten sollte, anstatt zu diskriminieren.“

Der konservative Politiker scheute sich nicht, seine Position zu Homosexualität zum Ausdruck zu bringen. Schon von weitem konnte man die Aufschrift „Als Mitglied der RN fordere ich gleiche Rechte für Homosexuelle. Wir sind gleichwertige Menschen!“ auf seinem Transparent lesen. Historische Bedeutung liegt auch in diesem Detail: Das Transparent gibt nicht nur einer Forderung Ausdruck, sondern beinhaltet gleichzeitig auch eine Kritik an den Worten des Parteivorsitzenden Carlos Larraín, der sich im Vorfeld gegen die Demonstration geäußert hatte: „Hoffentlich haben sie damit keinen Erfolg. (…) Die Menschen können ihren sexuellen Neigungen nachgehen, das hat es schon immer gegeben, aber eine homosexuelle Ehe scheint mir ein Widerspruch in sich, und ich glaube nicht, dass solche Lebensformen für die Entwicklung unserer Gesellschaft gut wären.“ Mit dieser Position steht er sicher nicht allein da, er hatte zudem behauptet, die gesamte Partei stehe in diesem Punkt geschlossen hinter ihm. Doch auf der Straße wurde das Gegenteil demonstriert.

So bewegte sich die Demonstration friedlich durch die Stadt. Ein Anflug von Anspannung entstand lediglich, als die Parade auf der Höhe des Paseo Ahumada eine Gruppe von 15 Nazis passierte, die mit Spruchbändern und Transparenten ihren Protest gegen die Parade ausdrückten. Sie wurden von der Polizei aufgefordert, sich zurückzuziehen. Ihre Anwesenheit wurde jedoch von kaum jemandem bemerkt.

30.000 Teilnehmende bei der Abschlusskundgebung

Der Großteil der Demonstration setzte seinen Marsch bis zum Paseo Bulnes fort, wo gegenüber von La Moneda eine Bühne aufgebaut war. Hier fand die Abschlusskundgebung mit mehreren Redebeiträgen statt, gefolgt von einigen künstlerischen Darbietungen und mehreren Liedern der Sängerin Francisca Valenzuela. 30.000 Menschen reagierten auf die Beiträge mit begeistertem Applaus. Damit näherte sich die Veranstaltung dem Ende, die rundum als Erfolg gewertet werden kann.

Die auf Scham, Angst und archaischer Homophobie errichteten Barrieren, die bis vor zehn Jahren weltweit unsere gesellschaftlichen Konzepte bestimmten, haben den Rückzug angetreten. Das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe, ein konsequentes Antidiskriminierungsgesetz und noch vieles mehr wurde im Zuge dieser Großdemonstration eingefordert. Nicht nur im Namen der Homosexuellen, sondern im Namen des gesamten Landes. Nun sind die Behörden am Zug. Es sind nicht nur die 1,2 Millionen, die davon profitieren, sondern alle Teile der Gesellschaft.

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