Auf den Spuren der indigenen Gemeinde-Schule Warisata

Von Thomas Guthmann

(La Paz, 8. November 2017, npl).- In dem kleinen Dorf in Bolivien in der Nähe des Titicacasees fand von 1931 bis 1940 ein großes Schulexperiment statt. Drei Autostunden vom Regierungssitz La Paz entfernt liegt die Gemeinde Warisata. Malerisch reckt sich der Gipfel des Illampu, eisbedeckt 6.500 Meter hinter historischen Schulgebäuden in die Höhe und man hat das Gefühl, dem Himmel ganz nahe zu sein. In dieser Abgeschiedenheit des Andenhochlands begannen vor über 80 Jahren Elizardo Pérez und Avelino Siñani mit dem Aufbau der Escuela Ayllu Warisata – der indigenen Gemeindeschule Warisata.

Damals war für Indígenas auf dem Lande ein Schulbesuch nicht vorgesehen. Wer Aymara, Quetchua oder Guaraní war und seine Kinder in die Schule schicken wollte, musste das heimlich machen. Pérez ein argentinischer Pädagoge, der in La Paz unterrichtete und gute Beziehungen ins Bildungsministerium hatte, überzeugte den damaligen Minister Bailón Mercado 1931, das Experiment zu wagen. So entstand die Escuela Ayllu Warisata, eine Landschule die, so die Soziologin Yvette Mejía, nichts neues schuf, sondern innovativ war, weil sie „auf den Traditionen der lokalen Bevölkerung der Aymara aufbaute“. Das Prinzip des gerechten Tausches, Ayni, oder die gemeinschaftliche Arbeit, die M’inka waren nur zwei Prinzipien, nach denen die Gemeinden im bolivianischen Hochland funktionierten.

Ein Modell für die Gegenwart?

Heute ist diese historische Schule Vorbild für die 2010 in Kraft getretene Schulreform des Andenstaats und Warisata erlebt ein zweites Revival. Das erste erlebte die Schulidee in den 40er und 50er Jahren in Peru und Mexiko. Dort wurde sie zum Vorbild für die Landschulen. In Bolivien dagegen wurde die Schule erst in den vergangenen zehn Jahren wiederentdeckt.

Seit 2010 trägt das Schulgesetz den Namen der beiden Pädagogen Elizardo Pérez und Avelino Siñani und der Rahmenlehrplan sieht vor, dass die Schule „zu einem Ort wird, der sich mit der Gemeinschaft verbindet“, so Noel Aguirre, Staatssekretär für alternative Bildung. „Schule muss sich öffnen und zu einem sozialen Ort werden. Um das zu ermöglichen, müssen die Akteure aus der Gemeinde mit anpacken und sie müssen mitbestimmen können. Relevante lokale Themen, wie zum Beispiel Ernährungssicherheit oder Umweltschutz, müssen zum Gegenstand des Lernens werden“.

Schule als offener und sozialer Ort

Wie das aussehen kann, zeigt ein Besuch in der Dorfschule Cañauma, eine Gemeinde wenige Kilometer von La Paz entfernt. Maria Gonzalez arbeitet dort in einem Projekt, das die Schule zu einem solchen offenen Ort machen soll. Lernen soll vornehmlich in der Praxis stattfinden und so ist es für sie auch selbstverständlich, dass für den heutigen Workshop über gute Ernährung, Pennäler*innen der ersten Klasse die große Pinnwand aufbauen – sie selbst, so sagt sie „möchte sich da nicht zu sehr einmischen“. Wie vor 80 Jahren in Warisata sollen die Kinder in Cañuma in der Praxis lernen. Der klassische Frontalunterricht ist zwar nicht abgeschafft, in der Schule aber zumindest ein Stück weit Geschichte, so die Pädagogin „Es ist nicht mehr so wie vorher, als die Arbeit mit den Kindern alleine den Lehrern überlassen wurde. Jetzt ist es eine gemeinschaftliche Aufgabe und wir wollen diese Gemeinschaft stärken“.

Auch in der historischen Schule in Warisata fand ein Großteil des Unterrichts nicht im Klassenraum statt, sondern auf dem Feld oder in der Ziegelei. Die Schüler*innen lernten in der Praxis, die Erstklässler*innen bekamen am ersten Schultag ein Lama, ein Schaf oder ein paar Hühner zugewiesen, um die sie sich dann kümmern mussten. So lernten sie ganz praktisch Verantwortung zu übernehmen. Die Schule war produktiv, sie versorgte sich selbst mit Lebensmitteln und produzierte Ziegelsteine. Sie war ein wirtschaftliches Zentrum der Gemeinde und gleichzeitig ein Innovationszentrum. Das galt sowohl für die Produktion als auch für die Kunst. Warisata war ein Meilenstein in der indigenen Kunst. Die Wandmalereien im historischen Schulgebäude zeugen bis heute davon.

Wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Gemeinde

Produktivität, die Wiederentdeckung indigener Werte sind auch das Credo des neuen Schulgesetzes. Der Rahmenlehrplan sieht vor, dass die Kinder nach einem „sozio-kommunitären produktiven Modell“ lernen sollen. Das Modell besteht aus vier Dimensionen: dem Sein, dem Wissen, dem Machen und dem Entscheiden. So sind dem Sein die Werte zugeordnet, während dem Wissen Kenntnisse und Weisheiten zugeordnet sind. Werte und Kenntnisse werden als relativ angesehen und sind von der jeweiligen Kultur abhängig. Die unterschiedlichen indigenen Kulturen haben das Recht, eigene Lehrpläne zu erarbeiten und sollen dort ihre Vorstellungen vom Sein, dem Wissen, dem Machen und dem Entscheiden konkretisieren. Auf dem Land, so betont Staatssekretär Aguirre, funktioniere das ganz gut.

Aber was ist mit den Städten? Mittlerweile leben über 70 Prozent der Bolivianer*innen in urbanen Räumen. Dort, so David Aruquipa, Direktor der bolivianischen Kampagne für ein Recht auf Bildung, herrschen andere Bedingungen als auf dem Land. Die Gemeindestrukturen sind nicht vorhanden und die Lebensbedingungen sind anonymer. „Bis jetzt konzentriert sich das Gesetz auf die indigene Bevölkerung auf dem Land“, meint der Bildungsaktivist, „aber was ist mit den urbanen Räumen? Wie soll das Modell dort umgesetzt werden?“

Die Fragen von Aruquipa treiben auch Maria Gonzalez um. Ihre Schüler*innen haben inzwischen die Pinnwand aufgebaut, die Mütter und einige Väter haben sich eingefunden und das Seminar zu guter Ernährung hat begonnen. Die Öffnung der Schule in Cañauma ist auch deswegen einfacher, weil in der dörflichen Struktur ein anderer Zusammenhalt herrscht. „Wenn in der Schule etwas fehlt“, so die Pädagogin, „dann hilft die ganze Gemeinde mit, in der Stadt dagegen verlässt man sich auf den Staat, der soll es richten“. So wird der Erfolg der Reform und damit ein echtes Revival von Warisata für ganz Bolivien auch davon abhängen, wie sich das ländliche Konzept der Escuela Ayllu, der Gemeindeschule, auf den städtischen Raum übertragen lässt.

Zu diesem Artikel gibt es hier auch einen Audiobeitrag von Radio onda.

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