„Wo bleiben wir Bürger mit unserer Stimme?“

von Bettina Hoyer

(Berlin, 20. Juli 2012, npl).- Das Ergebnis der mexikanischen Präsidentschaftswahlen vom 1. Juli steht noch immer nicht fest. Der unterlegene Kandidat López Obrador will die Wahlen wegen Betrugs annullieren lassen. Im Interview berichtet Sara Méndez, Anthropologin und Koordinatorin bei der Menschenrechtsorganisation Codigo DH aus Oaxaca von Praktiken des Wahlbetrugs, Medienmacht und Gesetzeslücken.

Wie haben Sie den Wahlkampf erlebt?

Diese Wahl war eine der am besten beobachteten in diesem Land. Gleichzeitig wurden die Kandidaten sehr stark in Frage gestellt, denn bei einigen war schon vor sechs Jahren klar, dass sie jetzt antreten würden. Und man muss die Rolle der Medien erwähnen. Televisa zum Beispiel, hat ganz klar die Kandidatur eines Kandidaten aufgebaut. Im Vergleich zu früheren Wahlen gab es eine Präsenz eines einzigen Kandidaten – in diesem Falle Peña Nieto – in den Medien. Das hatte schon Züge einer Reality-Show.

Auf der anderen Seite war es interessant zu sehen, dass große Teile der Bevölkerung mit genau diesem Vorgehen überhaupt nicht einverstanden waren. Das zeigte sich bei den Protesten gegen Peña Nieto und in der Entstehung der Bewegung „yosoy #132“. Das sagt viel darüber, dass es neue Leute, junge Menschen gibt, die ein anderes Mexiko möchten, die aktiv an der Entwicklung ihres Lands teilhaben wollen.

Hat es Stimmenkauf und Druck auf Wähler gegeben?

Da hat es alles gegeben. Leute erhielten Geschenke, damit sie ihre Stimme einer Partei gaben. Das wird jedoch auch nachvollziehbar wenn man die tägliche Not vieler Menschen in Betracht zieht: Die Löhne sind sehr niedrig, die Produkte sehr teuer. 500 Pesos fallen da schon ins Gewischt, davon kann man Essen für mehrere Tage kaufen…

Eine Wählerstimme kostet 500 Pesos?

Das ist der Durchschnittswert. Es beginnt bei 200 Pesos und 1.500 Pesos sind das obere Ende der Skala. Der Betrag hängt vom Wahlort und von den Abmachungen ab. Es gab auch Versprechen, dass man Wählern 500 oder 1.000 Pesos geben würde, die nicht eingehalten wurden. Menschen protestierten, „Man hat mir nicht das versprochene Geld gegeben!“ Das hört sich schlimm an, aber so bekommt man eine Ahnung davon, wie Wählerstimmen in einem Land, in dem 60 Millionen Menschen in Armut leben, kommerzialisiert werden. Das Bildungsniveau ist nicht sehr hoch und die Fernsehstationen spielen eine Schlüsselrolle, indem sie ein Programm anbieten, das nicht zur Bewusstmachung oder zur Schaffung einer kritischen Masse dient. Im Gegenteil: Die Leute sollen zufrieden gestellt und unterhalten werden – und es wird ihnen suggeriert: In Mexiko ist alles in Ordnung.

In vielen lateinamerikanischen Ländern gibt es eine Wahlpflicht. Wer nicht wählen geht, muss eine oft recht hohe Strafe zahlen. Deshalb begeben sich in diesen Staaten viele Bürger zu den Wahlen an den Ort, wo sie gemeldet sind. Wie ist das in Mexiko?

In Mexiko gibt es keine Strafe, wenn man nicht wählen geht. Ob man zur Wahl geht, ist eine persönliche Entscheidung und das finde ich auch richtig. Aber jeder muss in seinem Wahlbezirk wählen. Ich beispielsweise habe in einer Gemeinde ganz in der Nähe von Oaxaca gewählt. Wenn ich am Wahltag nicht dort bin, muss ich ein Spezial-Wahllokal aufsuchen (casilla especial). Dort kann ich allerdings nur den Präsidenten wählen. In Oaxaca gab es nur sechs dieser Wahllokale mit jeweils 750 Wahlzetteln. Das ist viel zu wenig, aber alle Parteien haben sich auf diese Zahl von Stimmzetteln geeinigt. Weshalb das so ist, weswegen genau diese Zahl – das ist mir nicht bekannt. Es hätten mehr Stimmzettel sein sollen, denn die Bürger wollten an der Präsidentschaftswahl teilnehmen. Und in Oaxaca waren – wie in allen anderen Landesteilen auch – nicht ausreichend Stimmzettel für Spezial-Wahllokale vorhanden.

Die Leute standen in Oaxaca-Stadt stundenlang Schlange, um ihre Stimme abgeben zu können. Doch schon mittags gab es in Oaxaca-Stadt keine Stimmzettel für die speziellen Wahllokale mehr. Das hat zu Protesten geführt, die Leute schrien „Wir wollen wählen!“ oder „Wahlbetrug!“. Das waren schwierige Situationen. Obwohl die Wahllokale um 18 Uhr schließen, habe ich im Flughafen von Mexiko-Stadt, wo auch ein Spezial-Wahllokal eingerichtet war, um 19 Uhr noch die Proteste von Menschen gehört, die dort ihre Stimme hatten abgeben wollten.

Welche Praktiken des Wahlbetrugs gibt es denn?

Es gab natürlich noch eine Menge Klagen wegen Praktiken des Wahlbetrugs, die man so schon von früheren Wahlen kennt. Etwa, dass Leute mit Bussen zum Wahllokal gefahren wurden, vor allem zu den speziellen Wahllokalen. Oder auch, dass Menschen nicht am Wahlort leben, aber dort hingefahren werden. Alte Menschen, die oft nicht einmal mehr gehen können, werden zu den Wahllokalen gebracht. Das Ausmaß dieser „Busfahrten“ hat allerdings nicht zugenommen.

Es gibt natürlich einen Kontrollmechanismus. Parteienvertreter, Funktionäre, Vertreter der Gemeinden und Wahlbeobachter sind bei der Auszählung anwesend, damit korrekt gezählt wird. Das ist eine gute Einrichtung, um Partizipation und Glaubwürdigkeit zu garantieren.

Aber es gab auch Fälle von gestohlenen Wahlurnen, Wahlurnen die verbrannt wurden. Bei der Zählung gab es Auseinandersetzungen darüber, ob ein Wahlzettel gültig ist oder nicht. Manche Wähler wurden schlecht instruiert oder sie können nicht lesen und machen ihre Kreuze formal nicht richtig. Dann wird lange diskutiert, ob die Stimme nun gültig ist oder nicht und die Zählung ist extrem langsam. Und es gibt Dörfer in Oaxaca, die sind zehn oder zwölf Stunden Weg von der Stadt entfernt. Oft gibt es dort nicht einmal ein Telefon, um die Wahlergebnisse durchzusagen. Die Urnen treffen dann frühestens am nächsten Tag bei der Wahlbehörde ein.

An jeder Wahlurne wird nach der Zählung ein großer Zettel angebracht, auf dem vermerkt ist, wie viele Bürger dort insgesamt ihre Stimme abgegeben haben und auf welche Parteien sie entfallen. Wahlbeobachter und Anhänger der Bewegung „yosoy#132“ haben moniert, dass es Abweichungen bei den Gesamtstimmen gegeben habe. Das geschieht bei der Zählung, der werden hier hundert Stimmen dazugemogelt oder da zweihundert weggenommen. Das Problem ist, dass diese Betrugsversuche zugunsten einer Partei gingen: Der PRI.

Im Internet tauchten Fotos mit Wahlprotokollen auf, auf denen ja die Nummer des Wahllokals und die Stimmenzahl vermerkt sind – doch die im Internet von der Wahlbehörde veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnisse für jene Wahllokale wichen von auf den Protokollen vermerkten Stimmenzahlen ab. Hier eine Stimme weniger, dort eine zuviel. Es ist Ameisenarbeit, dieser Betrug, aber das summiert sich.

In diesem Moment gibt es kein offizielles Endergebnis der Wahlen. Die Internetseite der Wahlbehörde IFE, die mindestens das vorläufige Wahlergebnis enthalten sollte, funktioniert nicht. Wir haben eine Informationslücke und das lässt die Zweifel an den Wahlen natürlich wachsen.

Jetzt wurden auf Antrag von Andrés Manuel López Obrador mehr als die Hälfte der Stimmen neu ausgezählt. Kann der monierte Wahlbetrug dadurch aufgedeckt werden?

Die komplette Neuauszählung war bereits eine Forderung bei den Wahlen von 2006. „Stimme für Stimme, Wahllokal für Wahllokal!“, hieß es damals, für alle angezweifelten Resultate. Dieses Mal gibt es dieselbe Forderung für 74.000 Wahllokale, in denen die Zählungen nicht korrekt sein sollen. Und ich denke, es ist notwendig, diese gigantische Aufgabe durchzuführen.

Der Stimmenkauf oder der Druck auf Wähler, bestimmte Parteien zu wählen, fand jedoch auch vor der Stimmabgabe statt. Es ist eine Sache nachzuprüfen, ob richtig gezählt wurde oder abgegebene Stimmen entwendet wurden. Das kann man korrigieren. Alle anderen Praktiken aber können nicht nachgewiesen werden. Ob eine Stimme gekauft ist oder nicht, wissen wir nicht. Die Stimme ist legal, obwohl es die politische Praxis dahinter vielleicht nicht ist. Aber ich denke, die Zählung erneut zu machen ist wichtig. Damit die Menschen die Gewissheit haben, dass die Auszählung korrekt ist.

Vor sechs Jahren hatten wir eine ähnliche Situation. Und man hat keine Neuauszählung durchsetzen können. Es wurden bestimmte Wahllokale neu ausgezählt und das wurde dann statistisch hochgerechnet.

Glauben Sie, dass es einen Präsidenten Peña Nieto geben wird?

Ich warte auf das Ergebnis der Wahlbehörde und des Gerichts. Der Prozess zur Bestimmung eines neuen Präsidenten ist sauberer geworden, obwohl es eine sehr schmutzige Angelegenheit war. Momentan gibt es in Mexiko Stimmen, die eine Annullierung der Wahl fordern.

Haben denn jene, die eine Annullierung der Wahl fordern, die entsprechende Kraft?

Ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen. Denn das ist auch im Gesetz überhaupt nicht vorgesehen, da gibt es keine zweite Runde. Es wäre gut, wenn das so wäre. Ich denke, in Mexiko fehlen uns ein paar Mechanismen, damit das Wahlergebnis nicht am Ende von einem Gericht festgelegt wird. Denn ist ja passiert: Das Bundeswahlgericht bestimmt am Ende den Wahlsieger. So wurde das vor sechs Jahren festgelegt. Und es sieht so aus, als würde das dieses Mal wieder geschehen. Wo bleiben dann aber wir Bürger mit unserer Stimme?

Da ist die Leerstelle und das große Problem. Das Ergebnis kann rechtsgültig und trotzdem nicht legitim sein. Darin besteht das Problem. Wir brauchen Wahlen, die legal und legitim sind. Legalität allein reicht nicht aus. Das ist die große Herausforderung. Die Wahlbehörde wird auf dieses Problem reagieren müssen. Es gibt Gesetzeslücken, die es uns verunmöglichen, bestimmte Mechanismen anzuwenden, wie etwa eine Stichwahl durchzuführen, wodurch in anderen Staaten derartige Konflikte einigermaßen gelöst werden. Da stehen auch die Parteien in der Pflicht, Konflikten von derartigen Ausmaßen nach Wahlen vorzubeugen. Das ist ein nationales Problem. Wir haben eine schwere Krise der Regierbarkeit.

Im Grunde haben wir jetzt drei Wahlen gehabt, bei denen es einen größeren Wettbewerb gab: Die Wahlen von 2000, von 2006 und diese Wahlen jetzt. Vorher, während der 70 Jahre PRI-Regierung, wussten wir doch immer, wer gewinnen wird, egal ob du deine Stimme abgibst.

Im Jahr 2000 haben wir es geschafft, das zu ändern. Es gab einen Wettbewerb unter den Kandidaten – und der Wahlbehörde IFE kam eine Schlüsselrolle zu. 2006 gewann die Regierungspartei erneut, und es wurden Mängel bei der Behörde deutlich. Und die Behörde hatte ihre Rolle bei den Wahlen, zugunsten oder gegen die Glaubwürdigkeit und Transparenz des Wahlprozesses.

CC BY-SA 4.0 „Wo bleiben wir Bürger mit unserer Stimme?“ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert