Poonal Nr. 220-221

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 220/221 vom 29. November 1995

Inhalt


KUBA

URUGUAY

PARAGUAY

COSTA RICA

LATEINAMERIKA

NICARAGUA

MEXIKO


KUBA

Rußland will Atomkraftwerk fertigstellen

(Moskau/Havanna, 16. November 1995, prensa latina-POONAL).- Der stellvertretende russische Atomenergieminister, Viktor Sidorenko, bekräftigte das Interesse seines Landes, die Atomkraftanlage Juragua bei Cienfuegos fertigzustellen. Der Bau war 1990 aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Kubas und der drastischen Reduzierung der Zusammenarbeit mit den Staaten der ehemaligen Sowjetunion eingestellt worden. Kürzlich stellte die Internationale Atomenergiebehörde ein zufriedenstellendes Zeugnis über den Zustand der Anlage im Rohbau aus. Der russische Vizepremier Oleg Soskovets unterzeichnete bei einem Besuch auf der Insel vor einiger Zeit Vereinbarungen mit der kubanischen Regierung über die Wiederaufnahme der Arbeiten. Dies soll mit Hilfe westlicher Investoren geschehen. Sidorenko bezeichnete eine Fertigstellung vor Mitte des kommenden Jahres als möglich.

Neue Gespräche mit USA über Einwanderung

(Havanna, 16. November 1995, prensa latina-POONAL).- Ein Sprecher des kubanischen Außenministeriums kündigte die fünfte Gesprächsrunde mit Autoritäten der USA über die kubanischen Auswander*innen an. Verhandlungsort ist diesmal New York. Das genaue Datum ist noch nicht bekannt, doch wird mit einem Termin vor Ende des Monats gerechnet. Den Hinweis auf Erklärungen des US- Beauftragten für Kuba, Richard Nuccio, die Kubaner würden die Emigrant*innen mißbrauchen, konterte der Sprecher: „Der Tag, an dem diese Autoritäten mit irgendetwas zufrieden sind, was Kuba macht, muß abgewartet werden.“ Er bezeichnete die Klagen jedoch als Teil der Normalität. Bei der vierten Runde im Juli dieses Jahres in Havanna verpflichteten sich die USA, pro Jahr 20.000 Visa für ausreisewillige Kubaner*innen bereitzustellen und diejenigen, die illegal über die hohe See ihr Territorium betreten wollen, zurückzuschicken. Die Behörden der Insel sagten ihrerseits zu, keine Strafmaßnahmen gegen die zurückgeschickten Flüchtlinge zu unternehmen.

URUGUAY

Unternehmer*innen kritisieren die Regierung

(Montevideo, November 1995, comcosur-POONAL).- Die uruguayische Industriekammer, traditionell den mächtigen Gruppen des Landes verbunden, hat sich überraschend gegen Kernpunkte der Regierungspolitik gewandt. Kammerpräsident Jacinto Muxi sagte, in Ururguay „scheint nur die Senkung der Inflation wichtig zu sein“. Die Maßnahmen der Regierung Sanguinetti zur Industrieförderung bezeichnete er als „wenig wirksam und vorübergehend“. Der Industriesektor befindet sich in einer kritischen Situation. Im ersten Halbjahr 1995 fiel die Produktion um 4 Prozent, im zweiten Trimester sogar um 9,2 Prozent. Die Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit sind absehbar. Noch 1988 beschäftigte der Sektor 220.000 Arbeiter*innen, 1994 waren es nur noch 130.000. Die geringeren Exporte, die Invasion importierter Produkte, die mit niedrigen Zöllen belegt sind und der schlechte Wechselkurs führten offensichtlich zu der heftigen Reaktion der Kammer. Jacinto Muxi: „Die Branche sieht, wie ihre Anstrengung, die Aktivität und die Produktion aufrecht zu erhalten, systematisch unterhöhlt wird, indem unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel gesetzt wird.“

Regierung in Korruptionsskandal verwickelt

(Montevideo, November 1995, comcosur-POONAL).- Korruption und Postenschacher sind eigentlich nichts Neues in der uruguayischen Politik. Neu ist jedoch, daß diese Praktiken nun in einem notariell beglaubigten Dokument aktenkundig wird. Verwickelt in den Skandal ist die Nationalpartei, Regierungspartner der Coloradopartei. Die Enthüllung hat eine Vorgeschichte: Im komplexen Geflecht der uruguayischen Politik kann jede Partei mehr als einen Präsidentschaftskandidaten und mehr als ein Regierungsprogramm bei der Wahl vorstellen. So gibt es in der Nationalpartei beispielsweise den sogenannten „Herrerismo“-Flügel, den der ehemalige Präsident Luis Alberto Lacalle anführt. Lacalle setzte bei den vergangenen Wahlen Juan Andrés Ramírez als Präsidentschaftskandidaten durch. Doch aufgrund jüngster Anklagen über Unregelmäßigkeiten und Korruption der Vorgängerregierung unter Lacalle trennte sich Ramírez von der Gruppe, die ihn förderte und von dem Mann, der ihn bestimmte. So rettete er sein Image. Doch offensichtlich bekam er dafür die Quittung. Anonyme Quellen spielten der Presse ein Dokument zu, das von Ramírez selbst und dem Führer eines anderen Flügels der Nationalpartei, Gonzalo Aguirre, unterschrieben wurde. Darin verzichtet Aguirre zugunsten von Ramírez auf seine eigene Präsidentschaftskandidatur und sagt zu, letztgenannten zu unterstützen. Dieser garantiert der Aguirre-Gruppe im Gegenzug drei Polizeidirektionen, das Viehzuchtministerium, mehrere stellvertretende Direktorenposten in Staatsunternehmen, die Leitung verschiedener Botschaften und andere Wohltaten, falls er die Wahl gewonnen hätte (was bekanntlich nicht geschah).

Der Geheimpakt entstand im Oktober 1994. Durch seine Veröffentlichung Monate später werden die Rachegelüste des einstmals mächtigen „herreristischen“ Flügels gestillt. Doch die wichtigsten Führer, die noch in der Bewegung sind, einschließlich Lacalle zeigen sich überrascht und geben an, von der Vereinbarung nichts gewußt zu haben. Ramírez schlägt gegen seine ehemaligen Weggefährten zurück und gibt zu verstehen, es handele sich um einen Rauchvorhang, um die Aufmerksamkeit von der Korruption abzulenken. Inmitten dieser Scharmützel erleidet die Glaubwürdigkeit des politischen Systems in Uruguay großen Schaden. Eine Richterin klagte den ehemaligen Präsidenten der staatlichen Versicherungsbank und mehrfachen Abgeordneten Julio Grenno sowie den ehemaligen Präsidentenberater und ex-stellvertretenden Tourimusminister Daniel Cambón des „Amtsmißbrauches“ an. Dafür sind Haftstrafen zwischen drei und 24 Monaten vorgesehen. Die beiden Beschuldigten haben ein Privatunternehmen bei einer Ausschreibung begünstigt, die von der staatlichen Versicherung durchgeführt wurde. Zwei Tonbandaufzeichnungen, die Grennos und Cambóns Verhandlung der Aktion wiedergeben, waren ein entscheidendes Element, das sich zu den im letzten Jahr von den Abgeordneten der Oppositionspartei Frente Amplio formulierten Anklagen gesellten. Cambón dagegen bezeichnet sich als „ersten Sündenbock in dieser Attacke“. Es gehe um das rein politische Ziel, „die Amtsführung der vorangegangenen Regierung zu beschmutzen“.

Ein weiteres diskutiertes Korruptionsbeispiel sind nachteilige Geschäfte, die Staatseinrichtungen über das Unternehmen Focoex mit Spanien machte. Die Untersuchung darüber wird federführend von dem Abgeordneten Leonardo Nicolini (Frente Amplio – Encuentro Progresista) vorangetrieben. Dieser reiste kürzlich nach Europa und kam mit neuen Informationen zurück. Demnach führte Focoex Einkäufe im Wert von 200 Millionen Dollar durch und zahlte außerdem „Kommissionen“ zwischen 15 und 20 Millionen Dollar. Die Ausrüstung wurde zu einem Preis erstanden, der außerordentlich hoch über den normalen Preisen auf dem internationalen Markt in den jeweiligen Sparten lag. Als ob dies nicht genug wäre, so stellte der Abgeordnete fest, daß die Ware oft weder den wirklichen Bedürfnissen entsprach noch eine zufriedenstellende Qualität hatte. Eine gerade durchgeführte Umfrage in Uruguay ergab, daß für 86 Prozent der Leute die Korruption ein wichtiges Thema ist. Nur 16 Prozent glauben, alle Korruptionsfälle seien bekannt. 22 Prozent der Bevölkerung sehen sie hauptsächlich im politischen System, 53 Prozent in den staatlichen Unternehmen. Von der Regierung glauben 51 Prozent, daß sie die Korruption toleriert. In andere Institutionen ist das Vertrauen nicht größer. Toleranz gegenüber der Korruption beim Parlament sehen 47 Prozent, bei den politischen Parteien sogar 61 Prozent und bei den Gewerkschaften 48 Prozent.

PARAGUAY

Regierung geht gegen Landbesetzer vor

(Montevideo, November 1995, comcosur-POONAL).- Die Regierung Paraguays kündigte an, ihre Haltung gegenüber Landbesetzungen zu verschärfen. Als Folge der Besetzungen ist es bereits zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Campesinos gekommen. Gegen verschiedene Campesinoführer*innen liegen mehrere Haftbefehle vor. Einige befinden sich im Gefängnis. Eine Viehzüchterdelegation des gemeinsamen Marktes Mercosur besuchte kürzlich Präsident Wasmosy und forderte Aktionen sowie Garantien [gegen die Landbesetzungen]. Unterdessen forderte der Vorsitzende der landwirtschaftlichen Produzent*innen von Alto Paraña von der Regierung die sofortige Freilassung der verhafteten Campesinos sowie die Legalisierung der besetzten Ländereien.

COSTA RICA

Streit um Gesetz gegen die alltägliche Folter

– von Isabel Sánchez

(San José, 7. November 1995, sem-POONAL).- Niedergeschlagen, krank, ängstlich und müde, wünscht Zeidy nur, ihren Mann tot zu sehen, um der täglichen Folter zu entfliehen, die sie seit 16 Jahren erlebt. Unterdessen streiten die costarikensischen Abgeordneten verbissen um einen Gesetzentwurf, mit dem die Opfer der häuslichen Gewalt geschützt werden sollen. „Wo bleibt die Gerechtigkeit?“, fragt Zeidy, die auf einer Bank in dem gefüllten Raum des Frauenamtes sitzt. Vor mehr als einem Jahr klagte sie ihren Partner bei Gericht an, als ein Schlag von ihm ihr das Gesicht entstellte und die Netzhaut des linken Auges ablöste. Zeidys erster Sohn kam einen Monat zur früh auf die Welt – nach einer Tracht Prügel, die sie von ihrem Mann erhielt. Als sie vier Jahre alt war, mußte die heute vierjährige mitansehen, wie ihr Vater ihre Mutter an Händen und Füßen festband, sie knebelte und sie mit einem Seil am Dachbalken aufhängte, bis sie das Bewußtsein verlor. „Ich bin dahingekommen, zu fühlen, daß ich nichts wert bin. Wenn ich nicht vor Leiden umkomme, werde ich verrückt“, sagt Zeidy. Erniedrigt, mit verlorenem Selbstbewußtsein, bedroht, geschlagen und vergewaltigt haben in den vergangenen Monaten tausende costaricanische Frauen wie sie ihren Fall in der Hoffnung angezeigt, einen Ausweg zu finden. 3.600 Klagen waren es genau von Januar bis Oktober dieses Jahres bei der Frauenbehörde, das dem Innenministerium zugeordnet ist. Im vergangenen Jahr waren es 1.736. Mehr als die Hälfte dieser Frauen arbeiten zuhause und etwa 60 Prozent sind verheiratet. „Aber die häusliche Gewalt respektiert weder Alter, Ehestand, Beschäftigung oder soziale Schicht“, kommentiert Zaira Salazar, die Leiterin der Behörde. Die Dunkelziffer wird als sehr viel höher eingeschätzt als die angezeigten Fälle.

Deren Zunahme hat die Zweifel an der Fähigkeit des Staates und der Justiz genährt, auf das Problem zu reagieren. Nicht- Regierungsorganisationen (NGO's), Regierung und Abgeordnete führen einen hitzigen Streit über das Gesetz zur häuslichen Gewalt, das bald in erster Lesung angenommen oder abgelehnt werden muß. Von feministischer Seite kommt die Kritik, daß das Gesetz nicht speziell auf die Gewalt gegen Frauen abzielt. Es wurde ursprünglich von der Regierungsabgeordneten Flory Soto im Mai 1992 eingebracht. Die für den Staat arbeitende Anwältin Ligia Martín sieht Vorschläge von Frauengruppen eingearbeitet. Der Parlamentarier Francisco Pacheco urteilt: „Die Familie ist eine Einheit. Es gibt eine sehr enge Sicht, eine irrationale Position eines ausschließenden Feminismus, der das Gesetz nur auf die Frauen beschränken will.“ Die feministischen Gruppen beharren darauf, daß die verschiedenen Familienmitglieder wie die Alten oder die Jugendlichen verschiedene Arten von Gewalt erleiden. Ana Carcedo von der NGO Centro Feminista Nacional sieht in dem Gesetzentwurf zudem ein zweischneidiges Schwert, das sowohl für als auch gegen die Frauen verwendet werden könne. So gehört es zu den umstrittensten Maßnahmen, daß die RichterInnnen „der angegriffenen Person ein getrenntes Domizil zuweisen können, um sie vor zukünftigen Angriffen zu schützen“. Darin sieht auch Martín eine Form, die Frau erneut zum Opfer zu machen, wenn sie aus ihrem Haus geholt werde und in eine andere Unterkunft müsse. Carcedo befürchtet, bei einer erweiterten Anwendung des Gesetzes könnte ein „inzestuöser“ Mann die Frau aus dem Haus drängen, indem er sie beschuldige, die Kinder zu attackieren. „In Inzestsituationen ist es gewöhnlich, daß der Aggressor liebevoll zu sein scheint und die Kinder mit der Mutter konfrontiert“, so die Chefin der Feministinnnen-Gruppe.

Obwohl Costa Rica im vergangenen Juni die „Interamerikanische Konvention für die Vorbeugung, Bestrafung und Abschaffung jeglicher Art von Gewalt gegen die Frau“ unterzeichnete, sind in die Gesetzgebung des Landes weder straf- oder zivilrechtliche, noch verwaltungstechnische Regeln integriert worden, um die Verpflichtung zu erfüllen. Die Direktorin der Frauenbehörde betrachtet das umstrittene Gesetz als unzureichend, weil es die bezeichnete Art der Aggression nicht als Delikt bestimmt, keine Strafen einschließt und nicht einmal dringliche Vorgehensweisen definiert, um die Schutzmaßnahmen zu garantieren. Der Mut der Frauen, die es wagen, ihren Fall trotz der Bedrohung durch ihre Partner anzuzeigen, stößt oft mit einem Prozeß zusammen, in dem die Angegriffenen einmal mehr zum Opfer wird, während der Aggressor mit Zahlung einer Geldstrafe nach der Verhaftung freikommen kann. Die Psychologin Rebeca Alvarado kommentiert: „Die innerfamiliäre Gewalt wird reguliert, aber nicht verboten. Die Gesetze sind mit Mythen beladen und haben den Opfern keine juristische Unterstützung gegeben.“ Die Anwendung der Gesetzgebung greift zu kurz, um das verworrene Problem der häuslichen Gewalt zu erfassen, deren Opfer zu über 80 Prozent Frauen sind.

LATEINAMERIKA

Mindestens 90.000 Verschwundene

(Mexiko-Stadt, 22. November1995, POONAL).- In den vergangenen Jahrzehnten sind in Lateinamerika mindestes 90.000 Menschen verschwunden. Diese Zahl nannten Menschenrechtsorganisationen auf dem XIII. Kongreß der Lateinamerikanischen Vereinigung von Gruppen der Familienangehörigen der Verhafteten-Verschwundenen (FEDEFAM). Die FEDEFAM-Beauftragte für die internationalen Beziehungen erläuterte, daß es die meisten Verschwundenen in Guatemala gibt – 35.000 Menschen in vier Jahrzehnten. Es folgt Argentinien, wo offiziell 10.000 Menschen in der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1982 verschleppt wurden. In El Salvador verschwanden 8.000 Menschen im vergangenen Jahrzehnt, im Chile der Militärdiktatur Pinochets 1.193. In den letzten 20 Jahren gab es in Peru 4.000 Verschwundene, in Kolumbien 2.000. Auf dem FEDEFAM-Kongreß kamen Delegationen aus mehr als zehn Ländern zusammen. Sie sprachen über Druckmittel gegenüber den Regierungen, um das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären.

Menschenrechte der Indígenas (Teil III)

(Lima, Oktober 1995, noticias aliadas-POONAL).- Der dritte Teil und letzte Teil der Serie behandelt die Menschenrechtssituation der Indígenas in Brasilien und Kolumbien. Fallbeispiele aus Mexiko, Chile und Panama schließen das Special von Noticias Aliadas zu den Menschenrechten der Indígenas ab. Im Rahmen der Sondernummern zu den Menschenrechten in Lateinamerika wird die Nachrichtenagentur Ende des Jahres die Situation der Kinder auf dem Kontinent untersuchen. POONAL wird voraussichtlich auch davon eine gekürzte Version in mehreren Teilen veröffentlichen.

Brasilien: Das Land gehört uns

Wenn es von Präsident Cardoso abhinge, würden die Indígenas in Brasilien weiter an Hunger und Krankheiten sterben, falls sie nicht von Eindringlingen auf ihren eigenen Territorien ermordet würden. Cardoso hat seit seiner Amtsübernahme am 1. Januar 1995 seine Politik gegenüber den Indígenas noch nicht festgelegt. Er wird von den Streitkräften und Wirtschaftsgruppen gedrängt, die Größe der Indígena-Gebiete zu verkleinern und eine Gesetzgebung zu verabschieden, die die Nutzung der Mineralvorkommen sowie des Pflanzen- und Baumbestandes erlaubt. Der Präsident hat ebenso seinen Vorschlag für das größte Problem der Indios nicht in die Praxis umgesetzt: Die Grenzziehung für die Landflächen, die durch die Verfassung von 1988 garantiert wird und schon 1993 hätte abgeschlossen sein sollen. Doch für fast die Hälfte der Indígena- Gebiete steht dies noch aus. In seinem Wahlkampfprogramm hatte Cardoso 266 solcher Regionen mit einer Gesamtfläche von 447.310 Quadratkilometer anerkannt. Dort gibt es Landkonflikte und die Indios bekommen Morddrohungen, weil sie sich den Eindringlingen widersetzen.

Der Präsident verfolgt die gleiche Versäumnispolitik seiner Vorgänger Fernando Collar de Mello und Itamar Franco, der den 1992 wegen Korruption abgesetzten Mello bis 1994 beerbte. Religiöse Einrichtungen und Nicht-Regierungsorganisationen für die Verteidigung der Indígena-Rechte berichten, daß Cardoso in bestimmten Situationen sogar die von den Indios erkämpften Rechte in Frage gestellt hat. Der Indígena-Missionsrat (CIMI) der katholischen Kirche hat Hinweise, daß Minister Jobim das Statut der Indígena-Gesellschaften – die Sondergesetzgebung, die die Verpflichtungen des Staates gegenüber den Indios festschreibt – verändern will, um die Forderungen der Landinvasoren zu unterstützen, die auf dem Gebiet der Indígenas bleiben wollen. Jobim ist nach dem Präsidenten der ranghöchste Verantwortliche für die Grenzziehung. Er sieht in seinem Vorstoß die einzige Möglichkeit, den Konflikt mit dem öffentlichen Interesse bei der verwaltungstechnischen Abwicklung der Grenzziehung zu lösen. Der CIMI erinnert daran, daß Collor de Mello in den Jahren 1990 und 1991 dieselbe Taktik verfolgte. Jobim hat bereits drei Punkte des Status für nicht akzeptabel erklärt: Die Beteiligung von Nicht- Regierungsorganisationen, die Bestimmungen über den Umweltschutz und die derzeitigen Verfahren bei der Grenzmarkierung.

Präsident Cardoso zögert die Bestätigung der Grenzen für fünf Gebiete hinaus. Die technische Abwicklung dafür ist bereits geplant. Doch Cardoso muß dafür im Bundeshaushalt die entsprechenden Geldmittel sicherstellen und sich mit den Gruppen auseinandersetzen, die sich gegen die Grenzziehung stellen. Aber er hat sich bisher nur einmal zu dem Problem geäußert und zwar bei seiner Amtsübernahme. Seine Versprechungen stoßen auf starken Widerstand. Dem Beispiel der Streitkräfte in anderen lateinamerikanischen Ländern folgend, verlangen die brasilianischen Militärs nach wie vor verkleinerte Indígena- Territorien. Die Armee argumentiert, die Gebiete lägen in strategischen Grenzzonen. Die Unverletzlichkeit der Indígena- Gebiete [durch die Militärs] provoziere häufige Invasionen des brasilianischen Territoriums. Die Militärs führen an, in den besagten Zonen seien im allgemeinen große Vorkommen an seltenen Mineralien unter der Erdoberfläche. Damit sei der Untergrund der Indígena-Zonen weiterhin eine strategische Reserve für Brasilien. Sie werde durch Eindringlinge und Schmuggel durch den Amazonas- Urwald in benachbarte Länder ausgebeutet.

Militär hat Kontrolle übernommen

Die Region, die in der jüngsten Zeit den meisten Streit ausgelöst hat, ist als „Raposa/Tierra del Sol“ bekannt und liegt im nördlichen Bundesstaat Rondtnia. Der Indígenarat von Rondtnia (CIR) klagt das Justizministerium an, seit Februar dem Militär den Befehl gegeben zu haben, die Polizei des Bundesstaates beim Schutz der Indios dieser Region zu ersetzen. Laut dem CIR erlauben die Soldaten den Indígenas nicht, Häuser und Ställe zu bauen. Sie schüchtern die Führer*innen ein und verbieten die Arbeit der Nationalen Indiostiftung (FUNAI) sowie der Bundespolizei in dem Gebiet. Der FUNAI fehlen zudem die Mittel, ihre Aufgabe zu erfüllen. Ihr Präsident Dinarte Nobre Madeiro gibt eine Budgetkürzung von 85 Prozent an. Statt der geforderten 405 Millionen US-Dollar bewilligte die Regierung nur 60 Millionen Dollar.

Die Lage der Indígenas wird unterdessen immer dramatischer. Vom Volk der Guaraní im Bundesstaat Espíritu Santo starben in diesem Jahr drei Kinder an Unterernährung. Die Guaraní zählen gerade noch 165 Mitglieder. Nur in drei der 27 Bundesstaaten (Alagoa, Sergipe und Espíritu Santo) arbeiten sogenannte Interinstitutionelle Zentren für die Gesundheit der Indígenas. Sie funktionieren dank der Organisation durch die Indígenas selbst. Der CIMI geht von tausenden Indios, Kinder eingeschlossen, aus, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten – hauptsächlich in der Zuckerindustrie im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Das Gesamtbild der Situation hat dazu geführt, daß der Generalsekretär von Amnesty International gegenüber der brasilianischen Regierung seinen Unmut äußerte. Bei seinem Besuch im Mai wurde er deutlich: Die Bemühungen der Regierung um die Menschenrechte, so seine Besorgnis, beschränke sich weitgehend darauf, das nationale und internationale Image aufzupolieren.

Kolumbien: Indígenas in die Enge getrieben

Die Indígena-Völker Kolumbiens, zwei Prozent der Bevölkerung, kämpfen um ihr Überleben. Die „eingeborenen“ Gruppen sehen sich Guerilla, Paramilitärs, Drogenhändlern und Sicherheitskräften gegenüber. Seit 1990 sind laut dem Ständigen Menschenrechtskomitee etwa 150 Indígenas ermordet worden. „Gavilan“ (der Sperber), ein Indígenaführer aus Meta im Südosten Kolumbiens, versichert, bei seinen Besuchen in den Gemeinden, jedes Mal sowohl die Paramilitärs wie auch die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) von seinen Reiseplänen unterrichten zu müssen. „Die Carranceros (Spitzname der Paramilitärs) besetzen unser Land, verbrennen alles, auch die Häuser. Sie rekrutieren die Jugendlichen, weil sie meinen, die Indígenas sind gute Kämpfer. Die Gemeinde wird nach und nach verlassen“, beschreibt Gavilan die Situation.

Die Carranceros wechseln auch in die benachbarte Provinz Arauca über, die eine gemeinsame Grenze mit Venezuela hat. Dort agiert die Armee der Nationalen Befreiung (ELN), die Spannungen zwischen den Regierungen beider Länder verursacht hat, weil sie manchmal von venezolanischem Gebiet aus operiert. In Arauca wie in Meta haben Guerilleros und Paramilitärs Zwangsrekrutierungen in den Indígena-Gemeinden versucht. Seit 1994 sind in der Region drei Führer der Macagua Jihnu ermordet worden. Ein vierter, Manuel Soleta, überlebte, weil er das Gebiet verließ. Die Indígenas machen für diese drei Morde die ELN verantwortlich. „Die Gemeinde hat sich zerstreut, nachdem die Gewalt über uns kam. Jetzt versuchen die neuen Führer, sie wieder zu einen“, berichtet Soleta, der heute in Bogota lebt.

An der Atlantikküste beschuldigen die Zenus aus San Andrés Sotavento eine Abspaltung der Volksbefreiuungsarmee (ELP), ihre Führer umzubringen. Sie berichten gleichzeitig über die Drohungen der Paramilitärs und Großgrundbesitzer, die Dutzende von Indígenafamilien zwangen, ihre Orte zu verlassen. Seit 1986 starben mehr als 30 Zenus, weil sie etwa 100.000 Hektar Land einklagten. In Tolima, einer Agrarprovinz zwischen zwei Bergketten im Westen des Landes, ist die Lage noch schlimmer. Die Forderungen der Indígena-Völker nach ihrem Land sind von den Großgrundbesitzern blockiert worden. Diese gingen ein ungewöhnliches Bündnis sowohl mit der Polizei als auch den FARC ein. Die Guerillastreitkräfte halfen den Landbesitzern, die Anstrengungen der Indígenas der Pano und der Paez zunichte zu machen, an ihre Ursprungsort zurückzukehren. Nach Alberto Tico, einem Pano-Führer, der in Bogota lebt, ermordeten Guerilla und Sicherheitskräfte in den vergangenen vier Jahren 18 Mitglieder des regionalen Indígenarates.

Die Indígenagruppen sehen sich auch durch die Siedler*innen bedroht, die in diese Zone kommen, um in vielen Fällen Koka- und Mohnpflanzen für den Drogenhandel anzubauen. Trotz der geschilderten Situation wird die Vertreibung der Indigena- Gemeinden immer noch nicht als Problem anerkannt. Ein Beispiel dafür ist ein Bericht der kolumbianischen Bischofskonferenz. Er weist auf mehr als 600.000 interne Vertriebene im Land hin, erwähnt die Indígenavölker jedoch mit keinem Wort. Der Priester Jesus Flores, bei der katholischen Kirche für das Büro für Indígena-Angelegenheiten zuständig, will jedoch eine Veränderung gesehen haben: „Wir als Kirche sind gerade dabei, die Wichtigkeit zu bemerken, die politische Realität der Indígena-Gemeinden zu verstehen.“

Mexiko: Zapatist*innen gehen über Chiapas hinaus

Das größte Vermächtnis der Zapatist*innen könnte die Bewußtseinsbildung bezüglich der Indigenarechte im ganzen Land sein. Der Aufstand der Zapatistischen Armee für die Nationale Befreiung (EZLN) vom 1. Januar 1994 hat eine umfassende Resonanz unter den Indígenas aus verschiedenen Regionen Mexikos gehabt. Es ist noch nicht lange her, da campierten im nördlichen Bundesstaat Sonora, weit weg vom Ort, an dem die zapatistische Rebellion begann, Mayas vor dem Parlament und fügten ihre Forderungen nach Gerechtigkeit denen der Zapatisten hinzu. Im Zentrum des Landes stellten sich Frauen der Otomi aus Querétaro fünf Tage lang vor dem Amtssitz des Gouverneurs auf, um ihre Unterstützung für die Zapatist*innen zu zeigen. In den Bergen von Guerrero, dem ärmsten Bundesstaat Mexikos, riefen Nahuas, Mixtecos und Amuzgos den zapatistischen Wahlspruch „Ya Basta!“, um ihre Solidarität mit der RebellInnenbewegung zu zeigen.

Auf der III. Pluralen Landesweiten Indígena-Versammlung für die Autonomie (ANIPA), die am 27. August stattfand, zählten die Delegiert*innen die Stimmen der Consulta (Befragung) aus, zu der die EZLN aufgerufen hatte. Die Beteiligung der ANIPA war ein Zeichen für die Bande zwischen den unabhängigen Indígenabewegungen und den Zapatist*innen. Der Stimmzettel wurde in die 56 Indígenasprachen übersetzt, die es im Land gibt. Eine Klage, die die EZLN und ihre Anhänger*innen unter den Indígenas gemeinsam führen, ist die, daß das Gesetz nicht für alle gleich ist. Das korrupte mexikanische Rechtssystem bestraft die Indígena- Aktivist*innen hart, die Kaziken (Lokalfürsten) und ihre „Weißen Garden“ (Privatsöldner) dagegen genießen Straffreiheit. Seit Ex- Präsident Carlos Salinas de Gortari 1990 die (regierungstreue) staatliche Menschenrechtskommission schuf, sind überall in Mexiko zusammen mehr als 300 Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte entstanden, genährt durch Jahrhunderte von Autoritarismus und Rassismus. Viele von ihnen, oft von der katholischen Kirche und Gruppen der Linken gefördert, befinden sich in den Indígena-Regionen. In den Büroräumen der unabhängigen Menschenrechtsorganisation von Comacalco, Bundesstaat Tabasco, erklärt die Anwältin Carmen Méndez, von der Ethnie der Chontales, die bisherigen Erfolge: „Wir haben erreicht, daß die Polizei unsere Leute nicht mehr verhaftet und sie festhält, bis sie ein Bestechungsgeld bezahlt haben. Es ist ein kleiner Erfolg, aber wir haben den Behörden bewiesen, daß wir keine Sklaven sind.“

Chile: Spielräume gewinnen

Ohne es zu wissen, hätte Gladys Huanca, eine chilenische Aymara, gut auf der IV. Weltfrauenkonferenz sprechen können, statt in der nördlich gelegenen Stadt Arica über die Erfolge einer Textil- Kooperative zu sprechen. Huanca ist nicht über die Konferenz in Peking informiert, aber sie sieht, daß die Frauen ihrer Gemeinde nicht gerecht behandelt werden und sich dies ändern muß. „Bis vor kurzem hatten wir keine eigene Rolle in der Gemeinde. Unsere Männer ließen es nicht zu, daß wir uns organisierten. Sie sahen unsere Arbeit in der Familie und in der Gemeinde auch nicht als wichtig an“, berichtet sie. Doch mit der Gründung einer kleinen Nicht-Regierungsorganisation in Arica vor zehn Jahren änderte sich das Leben von Huanca sowie vieler anderer Aymara-Frauen.

Ana Maria Carrasco, bei den „Talleres de Estudios Andinos“ (TEA) für die Frauenprojekte zuständig, berichtet von den Anfängen: „Auf der Organisationsebene gab es nichts, als wir begannen. Traditionellerweise gibt es in der Aymara-Gesellschaft keine eigenen Organisationsinstanzen der Frauen. Die Nicht- Regierungsorganisation entschied sich für handwerkliche Projekte, weil diese Beschäftigung viele Leute zusammenbringt und eine Einkommensgelegenheit schafft – etwas, was die Gemeinden brauchen. Die Frauen schlossen sich zusammen, stießen aber auf den Widerstand der Aymara-Männer. Diese sahen überhaupt keinen Nutzen in dem Frauenprojekt. „Anfänglich war es eine schwierige Etappe, weil unsere Ehemänner uns nicht erlaubten, zu den Treffen zu gehen. Sie sagten, es wäre eine Zeitverschwendung“, erinnert sich Gladys Huanca.

TEA legte trotz der handwerklichen Ausrichtung der Projekte von Beginn an großen Wert auf die Ausbildung der Frauen in einer Reihe anderer Aktivitäten, damit sie ihre eigenen Kooperativen leiten konnten. Von den teilnehmenden Frauen hat die Mehrheit nur Grundschulbildung, 23 Prozent sind Analphabetinnen. „Das Ziel unseres Programmes war es immer, die Autonomie der Frauen zu erreichen. Heute haben sie Produktion, Organisation und Vermarktung der Produkte in ihren Händen. Wir geben nur technische Hilfe, wie beispielsweise bei der Buchführung“, erklärt Carrasco. Roberto Rojas, Direktor von TEA, sieht das Frauenprojekt als Teil der Anstrengungen der Organisation, Minderheiten-Bevölkerungen wie die der auf 45.000 Personen geschätzten Aymras zu unterstützen. Unter anderem hilft TEA den Kooperativen, den Status als juristische Person zu bekommen, „denn dieses Land funktioniert nach Formalitäten und wenn eine Gruppe keinen legalen Status hat, sieht sie sich vielen Schwierigkeiten gegenüber.“

Panama: Kunas kämpfen um ihre Kultur

Die Kunas sind eine etwa 48.000 Personen große Gruppe in Panama – viel weniger als ihre Stammesangehörigen in Kolumbien. Sie stellen ein Viertel der 200.000 Indígenas in dem Land mit 2,5 Millionen Einwohner*innen insgesamt. Die meisten leben in der Region von San Blas im Nordosten. Doch einige tausend Kunas arbeiten in den Gebieten der Bananenplanten, in Panama-Stadt und als Handwerker auf den Militärbasen der USA in der Kanalzone. Die Kuna-Kultur basiert auf örtlichen, regionalen und sogenannten Gebietsversammlungen. Die Führer werden aufgrund ihrer Fähigkeiten, Charaktereigenschaften und Kenntnisse von Tradition und Geschichte gewählt.

Zu den wichtigsten Organisationsformen in der Stadt gehören die Vereinigungen, die sich nach der Herkunftsgemeinde bestimmen und von denen es 16 gibt. Sie haben einen festen Sitz. Vor drei Jahren gründete sich ein Dachverband dieser Vereinigungen. Die andere Organisationsform ist auf den neuen Wohnsitz ausgerichtet. Die Kunas finden sich zusammen. Sie schaffen sich ihre Spielräume, indem sie bei ihrer Ankunft in der Stadt Mietshäuser in ihre Kolonie umwandeln. Dabei bauen sie Strukturen für Neuankömmlinge und Arbeitslose auf. Ein Phänomen jüngerer Zeit ist die Entwicklung von Vierteln am Stadtrand, in denen überwiegend Kunas leben und in denen versucht wird, auf städtischer Ebene die eigenen Organisations- und Kulturformen zu reproduzieren. Die städtischen Kunas stehen zwischen zwei Lebenskonzeptionen: zwischen gegenseitiger Hilfe und Konkurrenz, zwischen Gemeinde und Stadt, zwischen der Mutter Erde und dem Boden als Wertgegenstand. Nicht wenige optieren für das Vergessen und die Konversion zu einer anderen Kultur hin. Doch diejenigen, die sich auf ihre Geschichte besinnen, bewahren ihre Gebräuche und Organisationsformen.

NICARAGUA

Streik gegen Privatisierung

(Mexiko-Stadt, 22. November 1995, POONAL).- Zu Wochenanfang begannen hunderte nicaraguensischer Arbeiter*innen einen Streik auf unbestimmte Zeit. Sie protestieren damit gegen die Regierungsentscheidung, 51 Prozent der Aktien des staatlichen Telekommunikations- und Postunternehmens Telcor zu verkaufen. 90 Prozent der 3.400 Beschäftigten des Unternehmens stehen hinter dem Streikbeschluß. Anfänglich als Arbeitsstopp „mit verschränkten Armen“ geplant, hat sich die Bewegung von Managua aus schnell auf die anderen Provinzen des Landes ausgeweitet. Der Beschluß der mehrheitlich den Sandinisten zugeordneten Arbeiter*innen fiel nach einer Parlamentsabstimmung, bei der mit 45 gegen 20 Stimmen (und 10 Enthaltungen) die von der Regierung Chamorro vorgeschlagene Teilprivatisierung gutgeheißen wurde. Der Telcor- Gewerkschaftsführer Mario Malespín beschuldigte Regierung und Parlament sich „über uns lustig zu machen“. Die Gewerkschaft hatte statt der Privatisierung eine Rekapitalisierung von Telcor vorgeschlen. Das Staatsunternehmen hat einen jährlichen Umsatz von 60 Millionen Dollar und ist das profitabelste im Land. Die Regierung erhofft sich vom Aktienverkauf 300 Millionen Dollar.

MEXIKO

Marcos-Brief an Cecilia Rodriguez

(Mexiko-Stadt, 22. November 1995, POONAL).- Am 26. Oktober vergewaltigten in Chiapas drei maskierte und bewaffnete Männer Cecila Rodriguez. Rodriguez koordiniert in den USA die Nationale Demokratische Konvention (CND), zu der die Zapatist*innen im vergangenen Jahr aufriefen. Sie wurde 1994 durch den Subcomandante Marcos zur Repräsentantin der EZLN in den USA ernannt. Sie entschied sich trotz der damit verbundenen persönlichen Belastung, ihren Fall öffentlich zu präsentieren und löste damit eine breite Diskussion aus. Am 22. November erschien in der mexikanischen Tageszeitung „La Jornada“ mit Zustimmung von Cecilia Rodriguez ein an sie gerichteter Brief von Marcos und dem Klandestinen Revolutionären Indígena-Komitee der EZLN. POONAL hat diesen Brief – mit einigen wenigen Kürzungen – übersetzt.

„Cecilia: Ich schreibe Dir diese Zeilen in dieser Morgendämmerung, in der die Toten, unsere Toten, die Verbindungsbrücke akzeptieren, die ihnen tausende von Opfergaben in den indigenen Bergen des mexikanischen Südostens bieten. [Marcos bezieht sich hier auf die mexikanische Version des „Allerheiligen“ am 1. November]. Der Grund ist kein erfreulicher, es handelt sich nicht um einen Gruß, aber es ist auch ein Gruß. Wir wollen, daß Du weißt, daß wir zusammen mit jedem aufrichtigen Mann und jeder aufrichtigen Frau das kriminelle Attentat zurückweisen, dessen Objekt Du warst. Ja, 'Objekt', denn diese Aggression besteht darin, ein menschliches Wesen zur Sache, zum Objekt zu machen und 'zu gebrauchen', wie Sachen gebraucht werden. Die Verantwortlichen des Attentats werden gejagt werden. Gejagt wie Tiere, denn sie sind Tiere.

Wir wollen, daß Du weißt, daß wir Deine Stärke bewundern und Deine Weigerung, vor dem Versuch zu kapitulieren, Dich zu erniedrigen und Dich zu dem machen zu lassen, was die Macht 'normale Frau' nennt, das heißt, konformistisch, resigniert, verschwiegen, Objekt. Wie Du es so klar aufgezeigt hast, ist die Aggression gegen Dich Teil eines 'geräuschlosen' Krieges, eines 'heimlichen' Krieges, eines Krieges außerhalb der Schlagzeilen der Presse und darum weit weg von den Finanzmärkten. Du hast an den Krieg erinnert, der in unserem Land existiert, ein Krieg derer, die für ewiges und allmächtiges Unrecht stehen, gegen die, die eine demokratische Veränderung wollen. Wir begrüßen Deine Haltung als zapatistische Frau, Dein 'ich gebe mich nicht geschlagen!', Dein 'hier bin ich!', Dein 'ya basta!'. Wir begrüßen, daß die Eigenschaft, ZapatistIn zu sein, keine Grenzlinien und Zollstationen kennt, daß sie Mauern überspringt und der 'border patrol' eins auswischt…

Der Körper der Frau ist auch ein Schlachtfeld in diesem Vernichtungskrieg 'neuen Typs'. Sie attackieren Dich als Frau, aber vor allem als Zapatistin. Und mehr noch, weil Du eine nordamerikanische Bürgerin bist, die mit der EZLN und ihrerm Anliegen eines Friedens mit Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit sympathisierst.

Einige Frauen, unter ihnen etliche, die sich als Sympathisantinnen bezeichnen, nutzten die Angelegenheit der Vergewaltigung aus, um gegen… zapatistischen Machos loszustürmen. Sie fordern jetzt von uns, die Pasamontañas abzusetzen, um uns, wie sie sagen, von den Vergewaltigern zu distanzieren und um nicht, wie sie sagen, Vorkommnisse, wie Du sie erlitten hast, zu fördern. Weder sind wir der Feind, noch verdecken unsere Pasamontañas Verbrechen. Empört, wie sie sagen, forden und verlangen sie eine Distanzierung, eine Erklärung, eine Sühne, ein Schuldbekenntnis aufgrund der Tatsache, daß wir Männer sind. Das ist das neue Verbrechen, das sie uns anlasten: Männer zu sein. Weil wir das sind, seien wir Komplizen der Vergewaltigungen. Weil wir uns in Waffen erhoben haben, haben wir, sagen sie, ein Klima der Gewalt gegen die Frauen gefördert. Aber glaube nicht, das dies allgemein so ist. Die große Mehrheit der Frauen, die dem Zapatismus nahe stehen (das heißt, die Dir nahe stehen) versteht, daß dieses Verbrechen Teil einer kriegerischen Kette ist, die im Körper der Frau ein Schlachtfeld entdeckt hat. Sie und wir verstehen, daß es das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle System ist, das das Verbrechen und die Straffreiheit auf ihre Fahnen geschrieben hat, das diese und andere Aggressionen fördert, deckt und ermuntert. Wir wissen, daß wir kämpfen müssen, um eine Welt mit Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu erreichen.

Vor dem 1. Januar 1994 gab es hier, auf diesen Böden, Vergewaltigungen jeden Typs. Opfer waren nicht nur Frauen, aber in erster Linie Frauen. Die Unterdrückung ist eine doppelte: Die Unterdrückung der Frauen und die Unterdrückung der Indígenas. Hier und ich beziehe mich nicht nur auf Chiapas, wird das menschliche Wesen vergewaltigt, wird die Würde vergewaltigt, wird die Geschichte vergewaltigt.

Die zapatistischen Indígenafrauen, diese Frauen, die uns nicht gehören, mit denen wir denselben Weg gehen, diese Frauen so weit vom Pekinger Gipfel entfernt, diese Frauen so im Kampf gegen alles und gegen alles (einschließlich uns zapatistische Männer), diese Frauen, die zapatistischen Frauen, haben sich entschlossen, ihr Frauendasein aufzugeben, um das Recht, Frauen zu sein, zu erlangen. Das alles weißt Du gut. In dem mehr als einem Jahr, in dem Du als unsere rechtmäßige Vertreterin in der Amerikanischen Union auftrittst, hast Du uns entdeckt und hast tausende dieser Frauen (und dieser Männer) getroffen, die Deine Schwestern sind und mit denen Dich etwas eint, was man im Blut führt: die menschliche Würde.

Die Compañeras Comandantes unseres CCRI-CG der EZLN werden Dir unser Kommuniqué über diese Aggression, die Du erlitten hast, zukommen lassen und die wir, alle Zapatist*innen, mit Dir erlitten haben. Ihnen [den Frauen] kommt diese Rolle zu. Was mich persönlich angeht, so fühle ich mich unfähig, mit Papier und Tinte den Ansporn, die Sympathie die Bewunderung auszudrücken, die Du bei mir hervorrufst. Meine Plumpheit, oder eher die Angst, plump zu sein, lassen mich keine Worte finden. Sie, unsere Compañeras, sind nicht frei aufgrund der Tatsache, Zapatistinnen zu sein… Die Vergewaltigung ist nicht nur eine Sache der Frauen, sie betrifft auch uns Männer und nicht nur als Täter, sondern auch als Komplizen im verletzenden Spott oder im Schweigen. Aber sie kann uns auch einbeziehen im Kampf für den Respekt gegenüber dem Genus und seiner Besonderheit, das anerkennend, was wir sind und was wir nicht sind und vor allem, was wir sein können.

Ich schreibe Dir nicht wie jemandem, der mit dem Zapatismus sympathisiert und deswegen attackiert wird. Ich schreibe Dir wie einer Compañera, wie einer Zapatistin. Vielleicht hilft das, das Kärgliche dieser Gedanken und diese stammelnden Zeilen, die dieses auszudrücken versuchen, zu verstehen. Ich schreibe Dir nur im Namen meiner zapatistischen Compañeros und Compañeras, um Dich und uns daran zu erinnern, daß wir dasselbe sind, das heißt, die Eingebung, daß etwas Neues möglich ist und das es die Sache wert ist, dafür zu kämpfen, es zu erreichen.

Soweit. Ein Gruß und der Wunsch, daß die Erniedrigung nicht die Gegenwart und die Zukunft weder der Frauen noch irgendeines menschlichen Wesens sei.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens Aufständischer Subcomandante Marcos Mexiko, November 1995

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