Poonal Nr. 209

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 209 vom 06.09.1995

Inhalt


MEXICO

KUBA

PARAGUAY

GUATEMALA

BOLIVIEN

BRASILIEN

ECUADOR

PANAMA


MEXICO

EZLN soll politische Kraft werden

(Mexiko-Stadt, 1. September 1995, POONAL).- Es war kein überwältigender Erfolg, aber doch eine sehr gelungene Mobilisierung. Über eine Million Menschen nahmen am 27. August an der „landesweiten Befragung für den Frieden und die Demokratie teil“, zu der die Zapatistische Armee für die nationale Befreiung (EZLN) aufgerufen hatte. Die endgültigen Ergebnisse sind noch nicht offiziell von der Alianza Cívica bekannt gegeben. Doch das letzte Zwischenergebnis nach Auswertung von knapp 80 Prozent der mehr als 10.000 Wahltische und der mehr als 1.800 Vollversammlungen in Indígena-Gemeinden läßt relativ klare Aussagen zu. Eine große Mehrheit der Wähler*innen befürwortet die Umwandlung der EZLN in eine politische Kraft. Dabei zeichnet sich eine knappe, aber sichere Mehrheit dafür ab, daß sie dies vorerst unabhängig, also ohne den organisatorischen Zusammenschluß mit anderen politischen Kräften tun soll. Die in den übrigen vier Fragen gemachten Empfehlungen zu 16 „Grundforderungen des mexikanischen Volkes“ – ein Bündnis der demokratischen Kräfte aufzubauen, eine grundlegende politische Reform in die Wege zu leiten und eine ausgewogene Beteiligung der Frauen in Entscheidungs- und Repräsentationsfunktionen sicherzustellen – wurden jeweils mit mehr als 92 Prozent bejaht.

Nach den vorläufigen Auswertungen der Alianca Cívica antworteten etwa 16 Prozent der Wähler*innen sowohl auf die Frage 4 (neue politische Kraft, ohne Zusammenschluß mit anderen Organisationen) als auch auf die Frage 5 (neue politische Kraft, mit anderen zusammen) mit „Ja“. Dies erklärt, daß die Ja-Stimmen von 53 bzw. 48 Prozent addiert mehr als 100 Prozent ausmachen. Die Statistiker der Nationalen Demokratischen Konvention (CND) wandten Meßverfahren an, um etwas Klarheit in die Sache zu bringen. Danach wollen mindestens 74 Prozent der Wähler*innen die Umwandlung der EZLN in eine politische Kraft – entweder allein oder mit anderen Gruppierungen zusammen. Höchstens 17 Prozent lehnen dies in jedem Fall ab. Bei den Schlußfolgerungen ist vorerst Vorsicht geboten. Für die CND-Präsidentin Rosario Ibarra ist die EZLN als Ergebnis der Befragung „jetzt schon eine politische Kraft landesweit“ und „in einer besseren Position, um zu verhandeln“. Für Nuria Fernández, ebenfalls, Mitglied der CND, läßt sich aus der Consulta der klare Schluß ableiten, „andere Gruppen müssen mit in den Dialog rein“.

Diese anderen Gruppen sind zahlreich. Beispielsweise gehört die linke Partei der Demokratischen Revolution (PRD) dazu. Ihr dritter Parteikongreß fiel zeitlich mit der Befragung zusammen. Die in letzter Zeit arg gebeutelte Partei spaltete sich trotz mancher Unkenrufe nicht in die Anhängerschaft des pragmatischen Vorsitzenden Porfirio Muñoz Ledo und der des „moralischen Führers“ Cuauthémoc Cárdenas. Dem Eindruck nach geht die PRD im Gegenteil gestärkt aus ihrem Kongreß hervor. Die Forderungen der EZLN wurden auf dem Treffen ausdrücklich befürwortet, eine Allianz mit den Zapatisten und anderen Organisationen angestrebt. Der Barzón, eine landesweite Schuldnervereinigung mit mehreren hunderttausend Mitgliedern (nach eigenen Angaben sogar über eine Million), hat in den vergangenen Wochen Kontakt mit den Zapatisten aufgenommen, um seine Anliegen in die Gespräche von EZLN und Regierung einzubringen. Schließlich hat es im Zusammenhang mit der Befragung eine Annäherung zwischen der Alianza Cívica und den Zapatisten gegeben. Diese Faktoren zusammen könnten eine Perspektive für ein breites Oppositionsbündnis geben, das sowohl der regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) als auch der stark gewordenen PAN gewachsen ist. Dies müßte nicht in Form einer neuen Partei geschehen, die viele eher befürchten als erhoffen.

Noch keine Reaktion der Zapatistas

Die Zapatisten haben angesichts der erschwerten Kommunikationsmöglichkeiten noch nicht auf die Ergebnisse der Befragung reagieren können. Eine Abordnung der CND ist auf dem Weg nach Chiapas. Für den 5. September ist der Beginn der sechsten Verhandlungsrunde zwischen EZLN und Regierung in San Andrés Larráinzar vorgesehen. Die Versuche eines Teils der Presse, ein am 29. August veröffentlichtes weiteres Marcos-Kommuniqué als Verhandlungsabbruch zu interpretieren, scheiterten. Marcos bezeichnet darin den „sogenannten Dialog von San Andrés“ als „erschöpft“ und warnt in scharfem Ton vor jederzeit möglichen neuen Kampfhandlungen durch die Regierung. Von einem Abbruch der Gespräche ist im Originaltext jedoch an keiner Stelle die Rede. Die Regierungsdelegation beeilte sich, in einem eigenen Kommuniqué ihre Verhandlungsbereitschaft zu bekräftigen. Der EZLN hat die Befragung für die Gespräche Rückhalt gegeben.

Das Geschäft mit der Straße

– von Martha Villavicencio

(Mexiko-Stadt, 30. August 1995, POONAL).- Die großen Millionär*innen in Mexiko sind nicht nur Funktionäre, Drogenhändler, Unternehmer oder Geldspekulanten. Zu ihnen gehören auch die, die in dem Geschäft mit der Unterbeschäftigung und dem Elend arbeiten. Es gibt schon legendenhafte Geschichten wie die des „Königs der Pepenadores (Müllsammler)“, der den Handel mit dem Straßenabfall kontrollierte. Als er starb, tauchten sieben Ehefrauen auf, die wie im Märchen genug Reichtümer erbten, um damit ruhig bis an ihr Lebensende zu leben.

Guillermina Rico, Chefin der Straßenverkäufer*innen, ist ein weiterer Fall. Sie hat ihren Posten seit mindestens zwei „Sexenios“ (sechsjährige Amtszeit des Präsidenten) inne. Guillermina verhandelte direkt mit den Präsidenten über die Unterbringung der Armee von nahezu 19.000 Straßenverkäufer*innen im Zentrum der Stadt, deren Stände bis zu 60.000 Pesos kosten. Weitere tausende sogenannter „Torreros“ arbeiten ohne festen Platz. Sie haben ihren Spitznamen wegen der auf einer Decke präsentierten Ware und ihrer flinken Art, sie darin einzupacken, wenn die Polizei kommt. Die Verkäufer*innen bilden eine sehr heterogene Gruppe. Unter ihnen sind die Nahua-Indigenafrauen und die Mazahuas aus dem Zentrum des Landes, die Purépechas aus dem nördlichen Bundesstaat Michaocán, Mestizen, einige blonde Menoniten, die gleichgültig Käse in den Straßen verkaufen bis hin zu großen und starken Kubanern, die Kaugummis und Getränke an die Autofahrer im Zwei-Uhr-Nachmittagsstau verkaufen. Einige haben eine Wohnung, Fernseher und Telefon. Andere mieten zwei Quadratmeter große Zimmer im Zentrum der Stadt, wo sie mit Kisten aus Karton und Holz leben. Keine Straßenkinder, sondern „Straßenerwachsene“.

Um einen Platz auf der Straße zu bekommen, muß man organisiert sein

Um einen Platz auf der Straße zu bekommen, muß man organisiert sein und einer der 22 Organisationen in der Hauptstadt einen Beitrag zahlen. In diesen Organisationen haben die drei großen Parteien PRI, PRD und PAN sowie die von der Regierung unterstützte PT ihre Repräsentation. Die „Asamblea de Barrios“ beispielsweise ist eine der oppositionellen Bewegungen. Das Bestimmungsziel der Beiträge sind die Taschen einiger Anführer*innen und die einiger Funktionäre der Stadtbezirke. Guillermina Rico vertritt einen Teil der Straßenverkäufer*innen, der mit der regierenden PRI zusammengeht. Gekleidet wie eine Familienmutter der städtischen Unterschicht organisiert sie ihre Leute. Sie ist dick, trägt Dauerwelle und kleidet sich mit einem Rock und der karierten Schürze, die für die mexikanischen Arbeiterfrauen das ist, was für die Männer der Overall darstellt. Doch hinter der Schürze verbergen sich die Juwelen und die feine Kleidung, die durch die Beiträge und Geschenke von Mitgliedern der Organisation und Politikern ermöglicht wurden.

Zu den normalen Arbeiten der Verkäufer*innen gehört das Antreten. Die Regierungsveranstaltungen müssen immer gut gefüllt erscheinen. Dafür werden ein warmes Essen oder auch andere Wohltaten angeboten: beispielsweise ein hocheingeschätzter fester Platz in der Straße, um zu verkaufen. Der Terminus Tecnicus für die Präsenz bei öffentlichen Demonstrationen ist das „acarreo“, das Ankarren. Die Reisen gehen manchmal mehr als 1.000 Kilometer weit, in Bundesstaaten wie Chihuahua, wo die PRI keine Basis hat. Trotz der bedingungslosen Ergebenheit, die die Verkäufer*innen bis jetzt gezeigt haben, entschied die Regierung vor gut einer Woche ohne sie. Etwa 3.000 Granaderos, eine Spezialeinheit der städtischen Polizei, fielen am 22. August ins Stadtzentrum ein, um die Straßenverkäufer*innen daraus zu vertreiben. 70 Verwundete waren das Ergebnis des ersten Tages. Unter den Vertriebenen befanden sich auch zwei regierungstreue Anführerinnen, die erwähnte Guillermina Rico und Benita Chavarría. Der Generalsekretär des Stadtregenten Oscar Espinoza erklärte: Die „Verkäufer*innen belästigen den öffentlichen Verkehr und das ökologische Gleichgewicht von Mexiko-Stadt.“

Guillermina kommt am ersten Tag von einem Treffen mit den Behörden mit gesenktem Kopf zurück und schweigt. Eine wütende Benita erklärt der Tageszeitung „La Jornada“: „Wir ambulanten Händler haben bei den vergangenen Wahlen für die PRI gestimmt, doch sie denken nicht verantwortlich.“ Eine andere der PRI angeschlossene Verkäuferin versichert: „Wenn sie uns brauchen, sind wir da. Wir gehen auf die Veranstaltungen.“ Einige bei der offiziellen Menschenrechtskommission vorgebrachte Proteste nehmen den Ärger auf. Die Proteste halten an, doch die Anführerin schweigt. Im aufgemöbelten historischen Zentrum Mexiko-Stadts mit seinen renovierten Restaurants und neuen Diskotheken ist für die Straßenhändler kein Platz mehr. Bisher gibt es nur ein Versprechen, 5.000 von ihnen in 14 andere Zonen umzusiedeln. Doch die Umsiedlung der Verkäufer*innen ist auf jeden Fall ein Problem von alters her: Das erste, was dem spanischen Eroberer Bernal Díaz del Castillo im 16. Jahrhundert im Zentrum der Stadt auffiel war ein überdimensional großer Straßenmarkt.

Zeitenwechsel

– von Osvaldo León

(Quito, August 1995, alai-POONAL).- Inmitten von Ungewißheiten geht die Menschheit auf ein neues Jahrtausend zu. Einige meinen auch, daß wir uns aufgrund der Intensität und des Rythmus der registrierten Veränderungen in den vergangenen Jahren bereits darin befinden. Diese Veränderungen haben Schemata und Modelle, Überzeugungen und Perpektiven ins Schwanken gebracht. Sie künden einen Zeitenwechsel, einen neuen Zivilisationszyklus an. An der Oberfläche ragen am meisten das Ende der Bipolarität hervor, die die Ost-West-Konfrontation markierte und das Ende des „realexistierenden Sozialismus“. Doch gleichzeitig kann der Kapitalismus, so sehr er sich auch damit hervortut, seinen Triumph über diesen zu feiern, die schwere Krise nicht verbergen, die ihn untergräbt. Die wissenschaftliche und technische Revolution oder die dritte industrielle Revolution basieren auf einem Bündel technischer Erneuerungen und miteinander verknüpfter Prozesse, die die Wirtschaft sowie den sozialpolitischen Bereich zutiefst umformen. Eine der Stützen dieser Innovationen ist die Mikroelektronik, die den Gebrauch und die Übermittlung der Information verwandelt hat. Die anderen Hauptfaktoren sind: Die Automatisierung, die sogenannten „neuen Materialen“ und die Biotechnologie.

Im Bereich der Produktion drückt die Konsequenz dieser Veränderungen in der jedes Mal gewichtigeren Bedeutung des Wissens und der Information in den Produktionsprozessen aus. Das bringt die Verdrängung der menschlichen Arbeitskraft durch den Technologiefaktor mit sich sowie die Neuorganisation der Arbeitsprozesse – auch auf Verwaltungs- und Managementebene. Das auf segmentierte, hierachisierte und serienmäßige Arbeitsprozesse aufbauende Produktivsystem in Großunternehmen macht der dezentralisierten Produktion einer Vielzahl von Produktionseinheiten Platz. Oder anders: Die Fließband- und die Massenproduktion werden durch neue Unternehmenskonzepte wie das der „totalen Qualität“ oder der „Tertiärisierung“ (Subkontrakte mit Drittunternehmen) ersetzt. Dritte insustrielle Revolution hat nicht zur Ausweitung von Produktion und Beschäftigung geführt

Die dritte industrielle Revolution hat im Unterschied zu den vorhergehenden jedoch nicht zu einer Ausweitung der Produktion, der Investitionen, des Konsums und der Beschäftigung geführt. Im Gegenteil, ihr Anfang fällt mit einer weltweiten Rezession zusammen, ohne daß sich Erholungsanzeichen zeigen. Eines der Ergebnisse dieser Neuordnung, was die Dritte Welt angeht, ist die Dezentralisierung von Produktionsphasen mit weniger qualifizierter und intensiverer Arbeitskraft an Satellitenunternehmen. Jetzt stützt sich der Reichtum der industrialisierten Nationen – und folglich die Armut der unterentwickelten Länder – auf die Technologieanhäufung, die wiederum auf der Wissens- und Informationsdichte basiert. Mit diesen Parametern entwickelt sich eine neue internationale Arbeitsteilung, die mit einer verstärkten Internationalisierung der Produktion Hand in Hand geht und als Globalisierung der Wirtschaft bekannt ist. Gleichzeitig findet eine Konzentration und Zentralisierung der wirtschaftlichen Aktivität in den Händen einiger weniger transnationaler Unternehmen statt. Die Wirtschaftsströme konzentrieren sich jedesmal stärker im Norden. Im Süden dagegen kann man der Durchsetzung eines Wirtschaftsmodells beiwohnen, das im Norden definiert wurde und zwar zu dessem ausschließlichen Nutzen. In einigen Randländern findet das in einer Teilindustrialisierung seinen Ausfluß, mit der Gründung von Fabriken mit geringer Technologie und intensiver Arbeitskraft, deren Produktion im wesentlichen auf den Norden ausgerichtet ist. Das gleiche kann von der landwirtschaftlichen Produktion gesagt werden. Entscheidende Elemente sind die niedrigen Kosten der Arbeitskraft und die geringeren Umweltvorgaben in der Peripherie.

Im sozio-politischen Ambiente kann außer den Implikationen, die durch die erwähnten Veränderungen entstehen, ein besonderer Einfluß der Innovationen im Kommunikations- und Informatikbereich festgestellt werden. Weil er sich mehr im alltäglichen Leben festmacht, ist er tendenziell weniger wahrnehmbar. Aber wir sprechen sowohl vom Auftauchen einer neuen Sprache (eine Revolution in Begriffen der Kommunikationscodes) als auch von der Konfiguration eines weltumspannenden Kommunikationssystems mit der Fähigkeit, das Lokale und das Globale in simultaner Form verschmelzen zu lassen. Die Art und Weise, in der beispielsweise der Krieg im Irak verbreitet wurde, ist eine Vorahnung dafür, was all das zugunsten der großen Mächte bedeuten kann. Schwindelerregende Entwicklung der Kommunikation Die schwindelerregende Entwicklung der Kommunikation in der heutigen Welt und ihr Einfluß auf alle Lebensbereiche haben zu der Annahme geführt, wir lebten in der „Ära der Kommunikation“. Aber paradoxerweise ist das andere Zeichen der Epoche die Kommunikationslosigkeit, während die Kommunikationsmittel immer größer werden. Eine der Folgen dieser Neuordnung ist die wachsende Bedeutung der öffentlichen Meinung hinsichtlich des Spielraumes, die sozialen und politischen Konflikte aufzulösen. Das hat unter anderem zu einer Verbreiterung der Kommunikationswelt geführt. Marketing, Meinungsumfragen, Imagebildung, usw. erfordern ein multidisziplinäres Vorgehen. Die Kommunikationscodes zu beherrschen, ist jetzt eine Vorbedingung für das politische Handeln – in dem Maße, in dem die Politik den Massenmedien jedesmal mehr Spielraum zugesteht. Eine Verdrängung, die sich leicht daran festmachen läßt, daß inzwischen die Öffentlichkeitsbewegung mehr zählen als die politischen Aktionen. Das ist durch die tiefe Glaubwürdigkeitskrise verstärkt worden, in die die Institutionen und politischen Parteien gestürzt sind.

In diesem Zusammenhang haben die Kommunikationsmedien eine nie dagewesene Macht erreicht. Soweit, daß sie es sich zum Ziel gesetzt haben, die Freiräume in der politischen Repräsentation zu besetzen. Es sind sie, die heute entscheiden, was gesellschaftlich schicklich ist und was nicht. Im allgemeinen ist niemals etwas schicklich, was ihre Interessen gefährden kann. Wie bekannt ist, ist Ausdruck der öffentlichen Meinung hauptsächlich das, was in den Medien selbst kanalisiert wird. So wird die Informationsfreiheit zum Privileg einiger weniger, die sogar das Schicksal eines Wahlprozesses entscheiden können, ohne daß die Bürger*innen irgendeine Möglichkeit haben, auf sie Einfluß zu nehmen. Das heißt: Der gesellschaftliche Ausschluß, den der Neoliberalismus durchsetzt, besteht nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch in der symbolischen Welt. Daher ist die Einschätzung richtig, daß das Recht auf Kommunikation eine der Hauptforderungen des nächsten Jahrtausends sein wird wie es die Bildung in diesem Jahrhundert war.

KUBA

Bahn frei für Auslandskapital

– von Angel E. Pino

(Havanna, 31. August 1995, prensa latina-POONAL).- Das kubanische Parlament berät die letzten Einzelheiten für das Gesetz über Auslandsinvestitionen. Es wird nach Meinung der Expert*innen die tragende Säule der Wirtschaftsreformen auf der Insel sein. Die Debatte spielt sich zwischen der Notwendigkeit ab, in einer vom Neoliberalismus dominierten Welt genügend Anreize zu bieten, um Auslandskapital anzuziehen und dem Willen, die nationale Souveränität und die sozialen Errungenschaften der kubanischen Revolution zu bewahren. Parlamentspräsident Ricardo Alarcon beschrieb die Initiative kürzlich als „wichtiges Element“, Investionskapital für die Entwicklung der nationalen Wirtschaft leichter ins Land zu lassen, ohne die fundamentalen Prinzipien der Revolution und des Sozialismus aufs Spiel zu setzen. Dem bisherigen Stand nach werden den ausländischen Investor*innen alle Bereiche offenstehen. Ausnahmen sind die Landesverteidigung sowie das Gesundheits- und Bildungswesen. Es wird sogar möglich sein, daß Investitionsvorhaben zu 100 Prozent in der Hand des Auslandskapitals liegen. Den Schwerpunkt sollen jedoch gemischte Investitionen wie die Joint-Ventures bilden, die bereits seit einiger Zeit auf Kuba möglich sind. Das Vorgänger-Gesetz stammt noch aus dem Jahr 1982, als die Bedingungen für Kuba mit der starken wirtschaftlichen Anbindung an den Ostblock ganz anders waren. Fidel Castro sprach noch am 26. Juli von den „neuen Realitäten der Welt von heute“. Die Wirtschaftsreformen seien „umfassend und ziemlich radikal“. Dies bedeute jeder in keinem Fall, „zum Kapitalismus zurückzukehren und noch viel weniger, einen verrückten Wettlauf in diese Richtung anzufangen“. Das Investitionsgesetz wird derzeit in den Provinzparlamenten debattiert. Ab dem 4. September ist es Thema im Bundesparlament, welches es möglicherweise bereits in der jetzigen Sitzungsperiode verabschieden wird.

PARAGUAY

Landfrage: „Feuerlöscher“ am Werk

(Asunci“n, 30. August 1995, alai-POONAL).- „Die wirtschaftliche Situation der Bäuer*innen ist sehr entmutigend. Die Hauptsorge ist das Land. Doch die Regierung von Juan Carlos Wasmosy verweigert das Recht darauf. Das hat uns zu Landbesetzungen gezwungen“, sagt Alberto Arec, Vorsitzender der Nationalen BäuerInnenvereinigung Paraguays (FNC). Die FNC besteht seit vier Jahren. Sie ist in elf Provinzen präsent und vertritt sowohl Kleinproduzent*innen als auch die Campesinos ohne Land. Gerade hielt die Organisation ihren zweiten Kongreß ab. Zwar wurde auch andere Politikthemen angesprochen, doch die Landfrage stand bei dem Treffen stets im Mittelpunkt. „Wir befinden uns an vielen Orten im Konflikt und werden immer noch ständig von Teilen der Polizei und bewaffneten Pistoleros verfolgt“, beschreibt Arec die Situation nach den massiven Landbesetzungen der FNC. Die verantwortlichen Institutionen für die Agrarreform würden für die Ziele der traditionellen Parteien benutzt. Der BäuerInnenführer sieht die Regierungspolitik als Triebkraft für den Einigungsprozeß der verschiedenen BäuerInnen-Organsisationen, der in einer landesweiten Koordination seinen Ausdruck fand. Auf der Kontinentebene will die FNC mit der Lateinamerikanischen Koordination der Landorganisationen (CLOC) Kontakt aufnehmen.

Belarmino Balbuena, der Generalsekretär der Paraguayischen BäuerInnenbewegung, bezeichnete es in einem Gespräch mit Alai als unabdingbar, die Struktur der Agrarpolitik zu ändern. Diese beruhe noch auf der alten Landesverfassung und gehe auf die Zeit der Diktatur zurück. Balbuena fordert eine Kreditpolitik, die die Campesinos begünstigt sowie ein Bildungssystem, das nicht wie bisher „eine elitäre Erziehung für die Privilegierten“ sein solle.

In letzter Zeit sprechen die Regierungen schon nicht mehr von Agrarreform sondern von „ländlicher Entwicklung“. Mit sozialen und politischen Investitionen wird eine Feuerlöschpolitik angewendet, die nach Ansicht beider Campesino-Vertreter bereits kurzfristig auf noch größere Probleme stoßen wird. „Die Situation des Elends kann nicht mit Gelegenheitspolitik kontrolliert werden“, meinen sie. Dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) stehen sie kritisch gegenüber. Die kleinen Produzent*innen, die von der traditionellen Landwirtschaft leben und kaum über Technologie verfügen, seien im Vertrag nicht beachtet worden. Die Großexporteure und Viehzüchter seien die Nutznießer. Umgekehrt könne die schwache paraguayische Wirtschaft nicht mit Ländern wie Brasilien, Argentinien oder Uruguay konkurrieren. Das Land werde zu einem großen Markt für die Produkte des Auslandes. Im Mercosur sehen die Campesino-Organisationen eine Gefahr für die nationale Souveränität. Die wirtschaftliche Integration habe nichts mit Solidarität zu tun. Darum, so die BäuerInnenführer, „haben wir Campesino- und Landorganisationen des Cono Sur diskutiert und beschlossen, die Integration, bei der es Solidarität, Souveränität und Selbstbestimmung der Völker gibt, zu unserer Sache zu machen.“

GUATEMALA

Präsidentschaftskandidat hofft auf Unterordnung der Militärs

(Guatemala, 31. August 1995, cerigua-POONAL).- Alvaro Arzu, der bisher mit Abstand aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat für die Wahlen vom 12. November 1995, will die zwischen Regierung und Guerilla geschlossenen Abkommen im Falle seiner Wahl respektieren. Falls ein endgültiger Friedensvertrag noch nicht zustande gekommen sei, werde er die Verhandlungen mit der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) fortführen. Arzú kündigte eine soziale Marktwirtschaft an und gab der Hoffnung Ausdruck, eine hohe Wahlbeteiligung werde die Unterordnung der Militärs begünstigen. Der 49jährige Unternehmer entstammt einer alteingesessenen Familie der Oligarchie. Er ist Kandidat der rechten Partei des Nationalen Fortschritts (PAN), für die er 1985 das Bürgermeisteramt von Guatemala-Stadt gewann. Unter der Regierung von Jorge Serrano war er Außenminister. Arzú leugnet, enge Verbindungen mit dem Militär zu haben, spielt jedoch auf die Gefahr einer fortdauernden Dominanz der Streitkräfte an: „Wenn das Mandat [der WählerInnen] schwach ist, werden die Regierenden logischerweische in kurzer Zeit abhänging von diesen Einflußgruppen, sie werden ängstlich und die Regierung wird so wie viele andere zuvor.“

Erzbischöfliches Menschenrechtsbüro: „Regime der Straffreiheit“

(Guatemala, 31. August 1995, POONAL).- Etwa 50 Akademiker*innen, Mitarbeiter*innen von Menschenrechts-, Volks- und Entwicklungshilfeorganisationen sowie Regierungsabgesandte und Mitglieder der Streitkräfte diskutierten in der Stadt Antigua Guatemala über die Menschenrechtssituation im Land. Aufgerufen hatte das Interamerikanische Menschenrechtsinstitut (IIDH). Die Bewertungen der Situation gingen auseinander. Während Monseñor Juan Geradi, der Direktor des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros von einem „Regime der Straffreiheit“ sprach, hob der Militärberater Otto Noack hervor, daß Vertreter*innen so verschiedener Institutionen zusammen gekommen seien. Dies wäre vor zehn Jahren noch nicht möglich gewesen. Antonio Cancado vom IIDH sprach von einer „delikaten Situation“, was die Beachtung der Grundrechte in Guatemala angehe.

Friedensverhandlungen: „Fortschritte und Annäherungen“

(Puebla, 1. September 1995, cerigua-POONAL).- Nach viertägigen Verhandlungen in Mexiko gingen die Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) und die guatemaltekische Regierung ohne Abkommen auseinander. Unter Vermittlung der UNO verhandelten beide Parteien erneut über das Thema „Wirtschaftliche Aspekte und die Landfrage“. Laut einer UNO-Mitteilung war die Geprächsrunde nach Einschätzung beider Konfliktparteien „produktiv“. Guerillakommandant Pablo Monsanto und Héctor Rosada, der Chef der Regierungsdelegation, kommentierten „Fortschritte, Übereinstimmungen und Annäherungen“. Am 9. September fängt die nächste Runde an.

BOLIVIEN

Fünf Minister ausgewechselt

(Mexiko-Stadt, 2. September 1995, POONAL).- Der bolivianische Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada wechselte gleich fünf seiner zwölf Minister aus. Unter anderem mußten der Verteidigungsminister Raúl Tovar und der Finanzminister Fernando Cossío ihren Hut nehmen. Lozada definierte die Veränderungen als Teil eines sogenannten „Strukturwechsels“. Die politischen Expert*innen in Bolivien sehen die Lage unter konkreteren Gesichtspunkten. In der Regierungskoalition, die aus vier größeren und weiteren kleinen Parteien zusammengesetzt ist, hatte es zuletzt Unstimmigkeiten gegeben. So verlangte die Mitte-Rechts-Partei „Nationalistische Revolutionäre Bewegung“ (MNR) eine größere Präsenz im Kabinett. Die „BürgerInnenunion Solidarität“ beschwerte sich, überhaupt nicht über einen Ministerposten in der Koalitionsregierung vertreten zu sein. Durch die Neubesetzungen wurde den Wünschen beider Parteien Rechnung getragen. Dies könnte der Regierung eine bessere Ausgangsposition für die Kommunalwahlen im Dezember dieses Jahres verschaffen. Der unabhängige Abgeordnete Carlos Roth äußerte zudem die Vermutung, Präsident Lozada wolle mit den Kabinettsveränderungen die notwendigen politischen Bedingungen für eine Verfassungsreform erreichen. Diese verbietet die direkte Wiederwahl des Präsidenten nach einer ersten Amtsperiode. Gonzalo Sánchez de Lozada werden jedoch Gelüste nach einer zweiten Regierungszeit nachgesagt. Sein Mandat endet 1997.

BRASILIEN

Militärs bekommen mehr Geld

(Mexiko-Stadt, 2. September 1995, POONAL).- Der brasilianische Präsident Fernando Enríque Cardoso erhöhte die Gehälter für die Mitglieder der Streitkräfte um 8 bis 18 Prozent. Dies bedeutet Mehrausgaben von monatlich 13 Millionen Dollar für den Staat. Der Präsident ordnete die Erhöhung an, nachdem die Regierung vier Tage zuvor ein Gesetzesprojekt in den Kongreß einbrachte, daß für die Familien der offiziell 136 verschwundenen politischen Gegner*innen der Militärdiktatur (1964-1985) Entschädigungen in Höhe von 100.000 bis 150.000 Dollar vorsieht. Dies erhöhte die Spannungen zwischen Regierung und Militärs. Letztere befürchten neue Untersuchungen über die Umstände des „Verschwindenlassens“ von Personen unter der Militärdiktatur. Die Streitkräfte forderten außerdem eine entsprechende Entschädigung für Soldaten, die im Kampf gegen die Guerilla fielen. Die Regierung lehnt das ab. Die bewilligte Lohnerhöhung kann dennoch als Beschwichtigungsversuch gelten. Die Militärs müssen auch nicht befürchten, für ihre Verbrechen im Nachhinein zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das Entschädigungsgesetz sieht keine Nachforschungen über die Fälle der Verschwundenen vor.

ECUADOR

Politische Krise spitzt sich zu

(Mexiko-Stadt, 3. September 1995, POONAL).- Die politische Krise in Ecuador spitzt sich zu. Alle drei Staatsgewalten arbeiten gegeneinander. Das Parlament, in dem die Opposition die Mehrheit hat, entschied Ende August, den Präsidenten des Obersten Gerichtshof, Miguel Macías, abzusetzen. Ihm wird vorgeworfen, verfassungswidrig eine Strafe gegen das staatliche Sozialversicherungsinstitut angeordnet zu haben. Die Absetzung soll jedoch nicht in Kraft treten, bevor der Gerichtspräsident gegen den Vizepräsident Alberto Dahik einen Strafprozeß wegen Korruption eingeleitet hat. Eine Sonderkommission des Parlamentes erklärte zusätzlich den politischen Prozeß gegen Dahik und seine möglicherweise daraus folgende Absetzung für zulässig.

Präsident und Regierungschef Sixto Durán Ballén stellt sich hinter seinen Vertreter und ist inzwischen zur Gegenoffensive übergegangen. Er hat für den 26. November zu einer Volksbefragung über zehn Verfassungsreformen aufgerufen. Eine der vorgesehenen Reformen würde die Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten ermöglichen. Mögliche Ermittlungen gegen Alberto Dahik werden durch Durán Ballén erschwert. Er weigert sich, einen Fragebogen des Obersten Gerichtshofe über die angebliche Veruntreuung von Staatsgeldern, in die Dahik verwickelt sein soll, zu beantworten. Der Präsident sieht dies als Aufgabe des Rechnungsprüfers der Nation, Juan Carlos Faidutti an. Dieser hat Dahik bereits öffentlich verteidigt und ist von diesem als Zeuge benannt. Die angespannte Situation erhielt zusätzliche Brisanz durch Äußerungen der Streitkräfte. Diese wiederholten zwar ihren Respekt vor dem „demokratischen System“. Doch gleichzeitig erklärten sie sich „tief besorgt“über die Korruptionsanklagen gegen öffentliche Funktionäre. Das Oberkommando der Militärs forderte die Autoritäten auf, das Land „auf Wege der Einheit und Würde“ zu bringen.

PANAMA

Zwei US-Basen weniger

(Mexiko-Stadt, 3. September 1994, POONAL).- Die USA verließen am Wochenende mit Fort Davis und Fort Gulick zwei ihrer Militärbasen in Panama. Während die US-Fahne in Fort Davis eingeholt wurde, sangen Panameños lautstark die Nationalhymne und ließen den ehemaligen Regierungschef General Omar Torrijos hochleben. Torrijos, der Anfang der 80er Jahre bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, hatte mit dem US-Präsidenten Jimmy Carten im Rahmen der Panama-Kanalverträge den Abzug der US-Truppen vor dem Jahr 2000 ausgehandelt. Fort Davis war vor 84 Jahren von den Amerikanern errichtet worden. Der militärischen Übergabezeremonie saß als US- Vertreter der Chef des Südkommandos, General Barry McCaffrey, vor. Dieser empfahl dem Pentagon noch vor einem Monat, nicht alle Militärbasen bis zum Jahr 2000 zu räumen. Der Drogenhandel müsse bekämpft werden. Nun unterstrich er die Verpflichtung seiner Institution, die Kanalverträge völlig zu erfüllen. Es gibt jedoch Gerüchte, diese Verträge könnten neuverhandelt und geändert werden. Das Thema steht möglicherweise bereits auf dem Treffen zwischen Bill Clinton und Panamas Regierungschef Ernesto Balladares am 6. September auf dem Tisch. Balladares streitet das allerdings ab. Öffentlich erklärte er, das einzige Interesse der Panameños an einem Verbleib der US-Basen liege in dem wirtschaftlichen Gewinn. Bezüglich Fort Davis und Gulick versprach er der Bevölkerung den „größtmöglichen kollektiven Nutzen“.

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