Interview: Verlauf der Friedensverhandlungen

Was ist genau der Frente Amplio por la Paz (dt. Breites Bündnis für den Frieden), der letztes Jahr im November gegründet wurde?

-Es ist eine Bewegung, die aus der Marcha Patriótica zusammen mit anderen politischen Akteuren – u.a. die linke Partei PDA (Polo Democrático Alternativo) und die Grüne Partei – besteht und innerhalb derer wir mobilisieren und politische Initiativen entwickeln. Wir meinen, dass der Frieden ganz klar politischer Natur ist, und da machen wir keine Abstriche, denn wir haben eine Position zum Frieden. Nach 50 Jahren des bewaffneten Konfliktes kann man davon ausgehen, dass es keinen militärischen Sieg der einen über die andere Seite geben wird. Weder die Aufständischen noch der Staat haben die Oberhand gewonnen, also bleibt nur die Einigung.

Aber die Wahlen haben gezeigt, dass es immer noch zwei Vorstellungen in der kolumbianischen Gesellschaft gibt: die einen setzen auf den militärischen Weg, und die anderen auf den Dialog. Unter diesen Bedingungen hat die Marcha Patriótica sich dafür entschieden, die Wiederwahl des Präsidenten Juan Manuel Santos zu unterstützen.

-Ja, es gab Organisationen, die als einzelne nicht imstande waren, für Santos zu stimmen. Vor allem Familienangehörige der Opfer der Staatsgewalt wie z.B. die der „Falsos Positivos“ (so wird die Praxis der kolumbianischen Armee genannt, junge ermordete Zivilisten im Nachinein als im Gefecht umgekommene Guerilla-Kämpfer auszugeben). Sie sagen: „Santos war Verteidigungsminister als sie unsere Söhne umgebracht haben“. Das war eine schwierige Situation, aber für uns steht fest, dass wir vorankommen müssen, um endlich Frieden zu haben und die anderen Sachen müssen wir dagegen abwägen. Wir haben versucht, einen Diskurs zu gestalten, der darauf abzielt, eine Reihe von sozialen Hindernissen zu bewältigen, die wir in Kolumbien haben und von denen wir wissen, dass solange Krieg herrscht, sie nicht gelöst werden.

Welche sozialen Hindernisse sind dies zum Beispiel?

-Der soziale Protest wird stigmatisiert. Die Protestierenden werden sofort beschuldigt, zur Guerilla oder zu den Aufständischen zu gehören, und anhand dieses Diskurses wird die Einführung sozial und ökonomisch rückschrittlicher Maßnahmen erleichtert. An die 32 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze; an die acht oder neun Prozent leben in extremer Armut; die Jugendarbeitslosigkeit beträgt zwischen 32 und 36 Prozent, auf dem erreicht sie bis zu 48 Prozent. Diese jungen Leute sind für den Krieg der Brennstoff: Sie vergrößern die Reihen der Aufständischen oder der kolumbianischen Armee, weil das die Erwerbsmöglichkeiten sind, die sich ihnen anbieten. Der Staat hat viele Territorien – mehr als 30 Prozent der Landesfläche -, bei denen er nicht die Kontrolle darüber hat, was da vor sich geht. Es gibt kein Gewaltmonopol. Es gibt keinen Gesellschaftsvertrag, der alle Bürger*innen miteinander verbindet.

Letztes Jahr haben wir Danilo Urrea von der Organisation CENSAT Agua Viva-Amigos de la Tierra-Colombia (dt. Lebendes Wasser-Freunde der Erde-Kolumbien) interviewt, und er sagte uns, dass in Havanna über den Ausweg aus dem bewaffneten Konflikt verhandelt, aber kein Dialog für den Frieden geführt wird, und dass die Voraussetzungen für den Frieden nicht dort geschaffen werden, sondern dass diese gemeinsam mit der Gesellschaft entworfen werden müssen – vielleicht nach den Verhandlungen. Was denken Sie darüber?

-In den Diskussionen um den Frieden wird gerade darüber debattiert, ob es zuerst das Huhn oder das Ei gegeben hat, ob also an erster Stelle die Einigung und erst dann die sozialen Reformen stehen oder umgekehrt. Auch das ist eine der Schwierigkeiten der Debatte in Havanna und in Kolumbien, weil die Parteien sich weder über den Grund des Konflikts noch über die Schuldfrage einig werden – aber eben auch nicht darüber, was dem Land als Roadmap für den Frieden vorzuschlagen ist. Sie lassen die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit bei den Diskussionen und Beratschlagungen in diesem Friedensprozess außen vor.

Was ist die Position von Marcha Patriótica?

-Wir bestehen darauf, dass die kolumbianische Gesellschaft teilnimmt. Es geht nicht, dass sie (Regierung und FARC) nach Havanna gehen und sich in Gespräche vertiefen ohne Beachtung dessen, was in Kolumbien vor sich geht. Ein Friedensabkommen kann man zwar unterzeichnen, aber wenn die Prozentzahlen an Armut, extremer Armut und Arbeitslosigkeit nicht sinken, werden diese arbeitslosen jungen Leute zu den Drogenbanden wechseln. Diese Position, dass „man nach dem Friedensabkommen schon weitersehen wird“ muss man revidieren: wenn eine Einigung erzielt wird – was zu hoffen ist -, wird es sehr schwer sein die Ziele zu erreichen, die dort nicht bereits formuliert wurden, zumindest kurzfristig. Man muss jetzt handeln und wissen, dass wir den Rest unseres Lebens darin investieren müssen. Der Konflikt hat 50 Jahre gedauert. Und der Wiederaufbau des Landes ist unsere Aufgabe für die nächsten 50 Jahre.

Wie sehr ist die Zivilgesellschaft heute an den Verhandlungen beteiligt?

-Wir haben sehr hart daran gearbeitet -weit vor dem Friedensprozess -, uns die Mittel zu verschaffen, um unsere Position vertreten zu können. Wir haben z.B. erreicht, dass die Vereinten Nationen und die Universidad Nacional de Colombia eine Übereinkunft beschlossen haben, dass zu jedem einzelnen Tagesordnungspunkt die Organisationen angehört werden. Es wurde ein Forum zur Landfrage veranstaltet, ein anderes über die Frage der Teilhabe und noch eins zu den Opfern des Konflikts [die Ergebnisse dieser Treffen werden anschließend dem Runden Tisch in Havanna vorgelegt]. Mit dem Frente Amplio por la Paz haben wir daran gearbeitet, einen vielleicht pädagogischen Beitrag zum Frieden zu leisten, denn die Leute nehmen den Krieg einfach als den Normalzustand wahr. Die Gewalt ist derart zum Alltag geworden, dass für einen Ausweg ein ganzer pädagogischer Prozess notwendig ist.

Wie wirkt sich auf den Dialog die Beendigung des Waffenstillstands aus, den zuerst die FARC im Dezember ausgerufen hat, und schließlich im März die Regierung?

-Der Friedensprozess hat sich irgendwie Stück für Stück angebahnt, aber innerhalb von 20 Tagen wurde das alles zerstört und die Spannungen waren wieder da. Man kann einfach mitten im Konflikt keine Verhandlungen führen, das ist nicht möglich. U.a. deshalb, weil die rechtsgerichteten politischen Strömungen diese Themen aufgreifen und sagen: „der Krieg ist das Mittel der Wahl“.

Die Gespräche in Havanna sind weiterhin angespannt, aber der Dialog ist wieder aufgenommen worden. Sind jenseits der Spannungen, die noch einige Zeit andauern werden, die Gespräche anfälliger für ihren Abbruch geworden?

-Die Militaristen werden Dir sagen, dass sie nicht anfälliger für ihren Abbruch werden, weil jeder Militärschlag gegen die Guerilla und gegen die Aufständischen wie Schachzüge auf dem Verhandlungstisch sind. So sehen sie das. Sie denken, dass sich nur durch den militärische Druck eine Einigung erzielen lässt. Diese Sicht teilen wir nicht. Wir glauben nicht, dass man anhand militärischen Drucks zu einer Einigung kommt, sondern indem man miteinander redet und sich einigt. All diese kriegerischen Ereignisse erzeugen Misstrauen bei den Parteien, Wunden, die man sich sicherlich nicht schnell wieder schließen können wird.

Wo liegen am Verhandlungstisch die hauptsächlichen Differenzen?

-Man liegt weit auseinander bei dem Thema des Umgangs mit den Verantwortlichkeiten des Konflikts. Der Staat will seine Opfer als solche nicht anerkennen. Er sagt, dass es keine systematisch ausgeübte Gewalt von Seiten des Staates sondern einzelne Aktionen durch Bedienstete gegeben hat, und die Aufständischen sagen, dass ihrerseits keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Diese Positionen spiegeln sich wiederum darin wider, dass der Staat Gefängnisstrafen für alle Aufständischen sowie eine Waffenruhe für die Militärs vorschlägt, und die Guerilla eine allgemeine Waffenruhe. Ein weiteres sehr komplexes Thema ist das Ende des bewaffneten Konflikts: die Aufständischen sehen seit jeher vor, die Waffen nicht abzugeben bis die Übereinkünfte umgesetzt sind, und der Staat sagt, dass sie die Waffen abgeben müssen, damit die Übereinkünfte umgesetzt werden. Es gibt viel Misstrauen, und man muss die Bedingungen schaffen, damit es eine Einigung gibt, aber mitten im laufenden Konflikt zu verhandeln erzeugt ein negatives Klima.

 

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