Interview: „Ein Friedensabkommen macht Entwaffnete nicht zu Engeln“

von Orsetta Bellani

(Lima, 31. August 2015, noticias aliadas).- Der kolumbianische Anthropologe Efraín Jaramillo Jaramillo hat vier Jahrzehnte lang indigene, afrokolumbianische und Kleinbauerngemeinden bei dem Kampf um den Schutz ihrer Territorien und Kulturen begleitet. Er ist Direktor des Arbeitskollektivs Jenzera, einer interdisziplinären und interethnischen Gruppe, die 1998 gegründet wurde. Den Namen Jenzera, der in der Emberá-Sprache „Ameise“ bedeutet, erhielt die Gruppe von Kimy Pernía, einem indigenen Anführer der Emberá Katío, der 2001 von Paramilitärs getötet wurde.

Orsetta Bellani, Mitarbeiterin von Noticias Aliadas, sprach mit Jaramillo über die Sorgen und Hoffnungen, die der Friedensprozess zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens FARC und der Regierung von Juan Manuel Santos, der seit Oktober 2012 in der kubanischen Hauptstadt Havanna geführt wird, unter der indigenen Bevölkerung Kolumbiens weckt.

Interessenvertretung der indigenen Völker

OB: Die indigenen Völker sind nicht am Verhandlungtisch in Havanna vertreten. Es herrscht dennoch die Vorstellung, die FARC könnte deren Interessen und auch die der Kleinbauern vertreten. Was ist Ihre Meinung dazu?

EJJ: Einige Beobachter der politischen Linken glauben, die Interessen der indigenen Völker, der Kleinbauern und der Afrokolumbianer seien durch die FARC durchaus vertreten. Das ist reine Spekulation. Wie Hannah Arendt, die US-amerikanische Philosophin deutscher Herkunft, sagen würde, handelt es sich dabei um eine „Meinungswahrheit“ und keine „Tatsachenwahrheit“. Dass die FARC und ihre Anhänger davon ausgehen, sie würden die Interessen der indigenen Völker vertreten, ist eine Sache; eine ganz andere aber ist, ob diese Völker sich tatsächlich von den FARC repräsentiert fühlen. Die Indigenen glauben nicht, dass die verhandelnden Parteien sich um ihre Interessen kümmern.

OB: Ich höre da einen gewissen Pessimismus in Ihren Worten…

EJJ: Das kann schon sein. Aber sehen Sie, trotz allem was sie durchgemacht haben, sind die indigenen Völker optimistisch. Sie hoffen, dass die Verhandlungen zum Ende des bewaffneten Konflikts führen, um in eine Übergangsphase zum Wiederaufbau des Staates zu treten. Der Schauplatz in Havanna müsste kein exklusiver Ort des Staates und der FARC sein, der keine Dritten zulässt. Das wäre für die indigenen Völker von enormer Bedeutung, da sie somit zum ersten Mal seit Gültigkeit der Verfassung von 1991 davon Gebrauch machen würden, was es verfassungsgemäß bedeutet, ein wesentlicher Teil der kolumbianischen Nation zu sein und an der kollektiven und demokratischen Konstruktion des Staates und der Gesellschaft des Landes mitzuwirken. Daher haben sie die Hoffnung, dass die Zeit nach dem Konflikt einen offenen Raum für alle gesellschaftlichen Sektoren schaffen würde, um gemeinsam ein neues Land aufzubauen.

Hoffnung auf Wiedergutmachung

OB: Die indigenen Völker haben Schläge von beiden an den Verhandlungen beteiligten Parteien erlitten. Zwischen Januar und August diesen Jahres wurden laut der Nationalen Indigenen Organisation Kolumbiens ONIC (Organización Nacional Indígena de Colombia) 29 Indigene ermordet. Glauben die indigenen Völker, dass es mit der Unterzeichnung eines Abkommens Frieden geben könnte?

EJJ: Den indigenen Völkern ist klar, dass die Unterzeichnung eines Friedensabkommens nicht alle entwaffneten Kämpfer von einem Tag auf den anderen zu Engeln macht. Mit diesem realistischen Blick haben sie beschlossen, eine Nationale Indigene Kommission für humanitäre Angelegenheiten (Comisión Humanitaria Indígena Nacional) zu gründen, um die Gespräche mit den bewaffneten Akteuren, die gegen das Humanitäre Völkerrecht verstoßen haben, voranzubringen und allgemeingültige Kompromisse zu erzielen, mit denen das Leben der indigenen Völker geachtet werden soll. Die Kommission bemüht sich um Anerkennung seitens der nationalen Regierung sowie die Unterstützung internationaler Unterhändler, nationaler Garanten und Bebachter befreundeter Länder.

OB: Sehen die Friedensabkommen eine Art der Wiedergutmachung der Schäden vor, die gegen die indigenen Völker begangenen wurden?

EJJ: Die Indigenen hoffen, dass bei den Verhandlungen irgendeine Art von Abkommen über die Rechte der Opfer getroffen wird. Allerdings ist dahingehend Pessimismus zu spüren und die Hoffnungslosigkeit nimmt aufgrund des langsamen Voranschreitens einiger Regierungsprogramme für die indigenen Völker zu. Trotz des Opfer- und Landrückgabegesetzes (Ley de Víctimas y Restitución de Tierras) und der Verordnung 4633 aus dem Jahr 2011, welche Maßnahmen zur vollständigen Entschädigung und der Rückgabe von Gebietsrechten an die indigenen Gemeinden vorschreiben, wurde innerhalb von drei Jahren nur ein indigenes Schutzgebiet im nordwestlich gelegenen Chocó zurückgegeben.

Außerdem befürchten die Indigenen, dass die Nationale Bergbaubehörde ANM (Agencia Nacional de Minería) und das Verteidigungsministerium sich nicht an die Vorsichtsmaßnahmen halten, die vom Verwaltungsgericht des Departamentos Tolima angeordnet wurden, um die indigenen Gebiete vor den Schäden der Bergbauaktivitäten des südafrikanischen Goldförderunternehmens Anglo Gold Ashanti in der Gemeinde Cajamarca zu schützen, die im zentralen Westen von Tolima liegt.

Mögliche kleinbäuerliche Schutzgebiete auf indigenen Territorien

OB: Für die Zeit nach dem Konflikt versuchen die FARC sich eine Reihe von Schutzgebieten für Kleinbauern zu sichern, die sich auf indigenen Territorien befinden. Zeigen sich die indigenen Völker im Hinblick auf die Demobilisierung der bewaffneten Gruppen in irgendeiner Weise besorgt?

EJJ: Am jetzigen Stand der Verhandlungen angelangt, gehen wir davon aus, dass die Bewegungen, die den Prozess unterstützen, verstanden haben, dass nach dem Konflikt alle sozialen Sektoren politisch zusammenfinden müssen, um einen breiten, auf Mitgestaltung ausgelegten Raum zu schaffen. In Havanna wird bereits die Möglichkeit diskutiert, Gebiete für die entwaffneten Mitglieder der FARC zu schaffen und untersucht, ob dabei die Form der Kleinbauernreservate, der sogenannten “Zona de Reserva Campesina” (ZRC), am geeignesten ist.

Dies ist theoretisch gesehen ein interessanter Vorschlag, da es bei der ZRC nicht mehr darum ginge, eine “Landverteilung” im Rahmen einer Agrarreform zu fordern, sondern um die “Anerkennung von Kleinbauerngebieten”. Ähnlich wie die indigenen Schutzgebiete und kollektiven Gebiete der afrokolumbianischen Gemeinden befänden sich diese am Rande des Grundstückmarktes und wären ein Hindernis für die Konzentration von Landflächen. Allerdings weiß man nicht, wie die ZRC in der Praxis funktionieren würden.

Es ist kein Geheimnis, dass sich die Mehrheit der Milizionäre gar nicht vorstellen kann, in dieser idyllischen Welt zu leben, die die FARC so sehr angepriesen haben, in der Familien das Land bebauen und von den Früchten ihrer Arbeit leben. Landarbeit ist nicht das Leben von Männern, die vom Krieg abgehärtet sind, worauf mich drei entwaffnete Mitglieder der FARC hingewiesen haben, die ich interviewen konnte.

Wir hatten zuvor die Akzeptanz der Kleinbauernreservate angesprochen, sollten diese auf Gebieten der indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden eingerichtet werden. Damit diese Kleinbauernreservate funktionieren können, müsste man sich ein sehr kreatives Vorgehen überlegen.

Wenn ich auch all diese Bedenken erwähne, gibt es keinen Grund zur Aufregung. Mehr als um Probleme handelt es sich um die Herausforderungen eines multikulturellen Landes. Soll eine demokratischere Gesellschaft geschaffen werden, die stärker im Einklang mit den Prinzipien einer multiethnischen und plurikulturellen Nation wie Kolumbien steht, dann muss man sich diesen Herausforderungen stellen.

Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts:

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