Haiti, die offene Wunde Lateinamerikas

Von Gisela Brito, celag

(Quito, 12. Oktober 2016, alaiamerika21).- Haiti stand unlängst wegen des verheerenden Hurrikans Matthew und der Verschiebung der Präsidentschaftswahlen auf unbestimmte Zeit im Licht der Öffentlichkeit. Diese Wahlen sollten eigentlich am 9. Oktober 2016 durchgeführt werden, nachdem sie seit Oktober 2015 zweimal wegen Anzeigen über Unregelmäßigkeiten und der Eskalation politischer Spannungen auf den Straßen annulliert worden waren.

Warum ist Haiti dazu berufen, zu leiden?

Die Regierung bleibt vorerst in der Hand des Interim-Präsidenten Jocelerme Privert, der von der Nationalversammlung gewählt worden war, um das Machtvakuum nach Ende der Amtszeit des vorigen Präsidenten Michel Martelly auszufüllen. Martelly war mit Unterstützung der „internationalen Gemeinschaft“ in einem umstrittenen Wahlprozess 2010-2011 an die Macht gekommen.

Die letzte offizielle Zahl der Opfer des Hurrikans sind 372 Tote, vier Verschwundene und 246 Verletzte. In der internationalen Presse kursieren Zahlen, die 800 bis zu über 1.000 Tote nennen. Genauigkeit ist unwichtig, die Toten von Haiti lassen sich mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit zu Hunderten zählen. Als ob es sich nur um Zahlen handelte und nicht um Menschen, drehten sich die Nachrichten bei CNN International und ähnlichen Kanälen am Tag danach nicht um das zerstörerische Wüten des Hurrikans in Haiti, sondern um die sensationslüsterne Erwartung der Ankunft des Hurrikans Matthew in Florida.

Währenddessen folgte auf den Wirbelsturm in Haiti die Warnung vor dem Ausbruch der Cholera, die die Anzahl der Opfer noch potenzieren könnte, so wie es nach dem Erdbeben 2010 geschah. Eine Woche später kündigte CNN seinen Zuschauer*innen auf Spanisch an, dass der Sender finanziell dazu beitragen würde, für die Zerstörungen durch Matthew finanziell aufzukommen: „Solidarisiert Euch mit diesem Brudervolk, das dazu bestimmt zu sein scheint, zu leiden“(1)! Warum ist Haiti dazu berufen, zu leiden? In der Beziehung dieser kleinen Karibikinsel zur sogenannten „internationalen Gemeinschaft“ lassen sich einige Antworten aufspüren.

I

Es gibt ein Ereignis in der jüngeren Geschichte, das sehr wenig erforscht und allzu sehr verschwiegen wurde, das fundamental ist, um die Vergangenheit und Gegenwart Haitis zu verstehen. Zwischen 1791 und 1804 entwickelte sich auf der Antilleninsel ein revolutionärer Prozess, der in der Ausrufung der Unabhängigkeit von Frankreich und der Einrichtung der ersten freien schwarzen Republik gipfelte.

Die Revolution von Haiti wagte es, die in der Französischen Revolution verkörperte Moderne infrage zu stellen. Warum? Weil sie offen die universalistischen Ansprüche der Gleichheit und Freiheit herausforderte, die in der Erklärung der Menschenrechte von 1789 postuliert waren (2). Der große Widerspruch war, dass die Afroamerikaner*innen aus Haiti sich diese Universalität zu eigen machten und damit der eurozentrische ideologische Charakter der Französischen Revolution ans Licht kam, da die Rechte, die die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte postulierte, die Sklav*innen nicht berücksichtigten. Die behauptete Universalität war in Wahrheit nur ein Partikularismus, der den Interessen des hegemonialen Sektors entsprach, und genau deshalb – weil er hegemonial war – konnte sie als universell präsentiert werden.

Es handelt sich um die Offenlegung des Widerspruchs zwischen der Konstruktion der Ideen von Gleichheit und Freiheit, die auf der bürgerlichen europäischen Revolution beruhten, und der Logik der Sklaverei und kolonialen Ausbeutung, die es erlaubten, die europäischen Metropolen – ökonomisch gesehen – zu stützen. Und oftmals wird vergessen, dass die Sklaverei ein unverzichtbarer Pfeiler in der Entwicklung und Ausbreitung des modernen Kapitalismus war. Ohne sie wäre der Dreieckshandel (Europa-Afrika-Amerika) nicht möglich gewesen, der am Anfang dieses weltbeherrschenden Systems steht. In anderen Worten offenbarte die Revolution von Haiti den Widerspruch zwischen der philosophisch-politischen Sozialstruktur der Moderne, welche die individuelle Freiheit, die universelle Gleichheit und die menschliche Brüderlichkeit verteidigt, und der materiellen ökonomischen Basis, die von Sklaverei und Rassismus gestützt wird, die sie legitimiert.

Hier liegt möglicherweise die Ursache, warum die haitianische Revolution über Jahrhunderte in der offiziellen internationalen Geschichte skandalös verschwiegen wurde. Obwohl sie einen großen Einfluss auf das Denken dieser Epoche hatte (3), waren und sind die klassischen soziologischen und eurozentrischen Kategorien unzureichend, ihrer Komplexität Rechnung zu tragen. Von daher handelte es sich nicht nur um eine politische Revolution – die einzige siegreiche Revolution von Sklav*innen in der Geschichte der Menschheit – , sondern auch um eine konzeptionelle Revolution, die die existierenden Kategorien sprengte. Entsprechend war anschließend die Repression. Die Auflehnung kam Haiti sehr teuer zu stehen. Seitdem hält die „internationale Gemeinschaft“ das Land in einer Spirale von Kolonialismus und Ausplünderung gefangen, die seine Geschichte weiterhin prägt, immer im Namen guter Absichten, die im Lauf der Zeit variieren, die jüngsten unter dem Stichwort der „humanitären Hilfe“, des „Wiederaufbaus“ und der „Demokratie“.

II

So sehr war die Revolution von Haiti zum Vergessenwerden verdammt – auch von Haiti selbst –, dass bei den Feierlichkeiten des 200. Jahrestages der Unabhängigkeitsrevolutionen Lateinamerikas, die von Regierungen verschiedener politischer Richtungen pompös begangen wurden, niemand – mit Ausnahme von Kuba und Venezuela – diese erste und radikale Revolution erwähnte, die den emanzipatorischen Prozess in der Region einleitete. Nicht nur das, sondern die Geschichte Haitis ist im gesamten bisherigen 21. Jahrhundert geprägt geblieben von Militärintervention und ökonomischer Verwüstung. Im Jahr 2004 wurde der erste demokratisch gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide gestürzt, während die „internationale Gemeinschaft“ komplizenhaft dazu schwieg, angeführt von den USA, Frankreich und Kanada (4).

Der Putsch fand nur wenige Monate vor dem 200. Jahrestag der haitianischen Revolution statt und kurz nachdem der amtierende Präsident angekündigt hatte, eine historische Wiedergutmachung von Frankreich zu fordern. Seitdem intervenieren die Vereinten Nationen mit der „UN-Mission zur Stabilisierung Haitis“ (Minustah).

Seit kurz nach dem Erdbeben von 2010 regieren Minustah, die Nichtregierungsorganisationen und eine winzige, aber mächtige lokale Elite das Land. Die Konsequenzen könnten für die Mehrheit der Bevölkerung nicht schlimmer sein. Die institutionelle Schwäche und die räuberischen Interessen gehen ineinander über, um einem millionenschweren Handel Raum zu schaffen, der Tag für Tag floriert und Gelder der humanitären Hilfe und des Wiederaufbaus veruntreut – vor dem heuchlerischen Stillschweigen der „internationalen Gemeinschaft“. Sogar der Delegierte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) selbst prangerte die „NGOisierung“ des Landes und sein Korruptionsnetzwerk an, das Hilfsfonds zu Privatgeschäften umlenkt (5). Im Jahr 2015 wurde eine Untersuchung bekannt, die aufdeckte, dass das Rote Kreuz im Jahr 2011 500 Millionen US-Dollar für ein Wohnungsbauprojekt erhalten hatte, mit dem bis heute insgesamt sechs Häuser gebaut wurden (6). Ein anderes Beispiel ist die exponentielle Zunahme von Luxushotel-Bauten (NH, Marriot, und mindestens zehn weitere Hotelanlagen), während hunderttausende Menschen immer noch in Lagern und ohne Zugang zu Trinkwasser leben.

In diesem Kontext ergibt die Kluft zwischen den offiziellen Zahlen über die Opfer des Hurrikans Matthew und denen, die große internationale Medienkonzerne verbreiten, Sinn. Der aktuelle Innenminister François Anick Joseph prangerte dies mit einem lapidaren Satz an: „Sie (die NGO und die internationale Zusammenarbeit) wollen zeigen, dass die Situation schlimmer ist, um mehr Geldmittel einzufordern“ (7). Gelder, die seit Jahren nicht zur humanitären Hilfe eingesetzt werden, sondern die Taschen eines „Katastrophen-Kapitalismus“ aufblähen (8), der in den Ruinen eines schwachen Staates wühlt, um eine vorgebliche „internationale Hilfe“ in ein lukratives Geschäft umzuwandeln, das auf der humanitären Katastrophe basiert.

Im 18. Jahrhundert als „die Perle der Karibik“ für seinen entscheidenden Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung Frankreichs bekannt, wird Haiti die offene Wunde Lateinamerikas bleiben, solange dort weiter eine „internationalen Gemeinschaft“ interveniert, die seit Jahrzehnten nichts anderes ist als ein Euphemismus, um kolonialistische und ausbeuterische Praktiken in Ländern der Peripherie zu legitimieren.

Anmerkungen:

(1) Siehe http://cnnespanol.cnn.com/video/cnnee-haiti-dolor/

(2) Zu dem Thema ist der Aufsatz von Eduardo Grüner (2010) zu empfehlen: La oscuridad y las sombras. Capitalismo, cultura y revolución, Edhasa: Buenos Aires

(3) Zum Beispiel dokumentiert Susan Buck Morss (2005) den Einfluss des revolutionären Prozesses in Haiti auf die Entwicklung der berühmten Dialektik vom Herrn und dem Sklaven von Hegel, der ein aufmerksamer Leser von Berichten über die Ereignisse war, die er in der Presse der damaligen Epoche verfolgte. Siehe Hegel y Haití. La dialéctica amo-esclavo: una interpretación revolucionaria, Grupo Norma: Buenos Aires

(4) Dies war der zweite gegen Aristide verübte Staatsstreich, der bereits 1991 schon einmal gestürzt worden war

(5) García, J., „La OEA denuncia que Haití ‘está en manos de las ONG“, entrevista a Ricardo Seitenfus, El Mundo, (4. Februar 2010). http://www.elmundo.es/america/2010/02/04/noticias/1265293571.html

(6) Siehe https://www.propublica.org/article/how-the-red-cross-raised-half-a-billi…

(7) Siehe Telesur, „Haití denuncia negocio humanitario de ONGs tras paso de Matthew“ (8. Oktober 2016

(8) Naomi Klein nannte so die missbräuchlichen Geschäfte, die begannen, kaum dass die Erde 2010 zu beben aufgehört hatte

*  Gisela Brito aus Argentinien ist Soziologin, und arbeitet als Forscherin am argentinischen Kulturzentrum Kooperation Floreal Gorini, ist Mitglied des Sozialwissenschaftlichen Forschungsrates von Lateinamerika (Clacso) und des Strategischen lateinamerikanischen Zentrums für Geopolitik (Celag)

Übersetzung: Redaktion amerika21

 

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