Gegen das Schweigen

Von Wolf-Dieter Vogel, Mexiko-Stadt

(Mexiko-Stadt, 05. August 2017, npl).- Spähangriffe, Morde, Drohungen – Mexikos Journalist*innen leben gefährlich. Auf die Regierung verlassen sie sich jedoch nicht. Sie wollen ihren eigenen Schutz organisieren.

Fünf Tage die Woche, jeden Morgen ab 8 Uhr informiert Carmen Aristegui über die neuesten Ereignisse: über Korruptionsaffären, Bandenkriege und Fußballergebnisse. Immer wieder enttarnt die mexikanische Journalistin kriminelle Machenschaften von Politiker*innen oder Übergriffe brutaler Polizist*innen. Doch am 20. Juni dieses Jahres berichtet sie von einen Angriff, von dem sie auch selbst betroffen ist: Behördenmitarbeiter*innen haben systematisch Journalist*innen, Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger*innen ausspioniert. Sie installierten auf Handys das Trojaner-Programm Pegasus, um Passwörter abzugreifen, Bewegungsmodelle zu erstellen oder Nachrichten und Mails lesen. Auch Aristeguí geriet ins Visier der Späher*innen.

Nur Militär, Generalstaatsanwaltschaft und Geheimdienst verfügten über Pegasus-Programm

„Es kann kein Zufall sein, dass die Regierung gerade in ihren schwierigsten Zeiten so reagiert. In Zeiten, in denen man Erklärungen zu Massenmorden, Hinrichtungen und Korruptionsfällen erwartet hätte, eben zu all dem, was Journalisten und Menschenrechtsverteidiger konsequent recherchiert haben“, erklärt die Journalistin auf einer Pressekonferenz. Während sich die Regierung schwer tue, die nötigen institutionellen Antworten auf diese Gewalt zu finden, seien Pressvertreter*innen und Aktivistinnen mit einer Spionageaktion konfrontiert. Schon lange ist die investigative Journalistin als scharfe Kritikerin der Regierung bekannt. Ihr Team veröffentlichte eine Korruptionsaffäre, in die Präsident Enrique Peña Nieto verstrickt war.

Wer genau hinter dem Spähangriff steckt, ist unklar. Außer Frage steht jedoch, wer über das Pegasus-Programm ausschließlich verfügte: das Militär, die Generalstaatsanwaltschaft und der Geheimdienst. Also Institutionen, die immer wieder blockieren, wenn es um die Aufklärung von Verbrechen geht, für die Polizist*innen, Soldat*innen und andere staatliche Kräfte verantwortlich sind.

Besonders alarmiert zeigten sich Medienschaffende, als die Abhörmaßnahmen Mitte Juni bekannt wurden. Denn die Enthüllungen folgten auf eine Serie von Angriffen auf Journalist*innen. Sieben waren gerade im Bundesstaat Guerrero überfallen worden, acht wurden in der ersten Hälfte dieses Jahres ermordet. So auch der Redakteur Javier Valdez. Unbekannte erschossen ihn nahe den Redaktionsräumen seiner Zeitung Rio Doce im Bundesstaat Sinaloa.

Präsident verspricht mehr Schutz

Der Mord an dem renommierten und für seine Recherchen im Mafia-Milieu bekannten Valdez brachte das Fass zum Überlaufen. Im ganzen Land gingen Medienschaffende auf die Straße. Vor dem Bundesinnenministerium in Mexiko-Stadt forderten sie die Aufklärung des Verbrechens. Sie verwiesen auf die vielen anderen getöteten Kolleg*innen: auf Miroslawa Breach, Cecilio Pineda Brito, Ricarda Monlui, Filiberto Alvarez. Auch 186 internationale Korrespondent*innen solidarisierten sich in einer gemeinsamen Erklärung. Angesichts der massiven Proteste reagierte selbst die Regierung. „Es handelt sich hier um Angriffe auf die Pressefreiheit. Sie sind absolut nicht hinnehmbar“, erklärte Innenminister Miguel Angel Osorio Chong.

Präsident Peña Nieto versprach indes mehr Schutz. So solle die 2012 gegründete Sonderstaatsanwaltschaft für Verbrechen gegen die Pressefreiheit gestärkt werden. Doch viele Medienschaffende trauen der Regierung nicht. Allein in Peña Nietos vierjähriger Amtszeit wurden 35 Kolleg*innen hingerichtet. Seit dem Jahr 2000 sind laut Reporter ohne Grenzen mindestens 126 Pressearbeiter*innen gewaltsam ums Leben gekommen, etwa 30 gelten als verschwunden. Viele mussten sterben, weil sie im Dunstkreis von Banden der organisierten Kriminalität, korrupten lokalen Politiker*innen und Sicherheitskräften recherchierten.

Straflosigkeit liegt bei 99 Prozent

Auch deshalb hat kaum ein Politiker Interesse an Journalist*innen, die solche Strukturen aufdecken oder über gewalttätige Sicherheitskräfte informieren. Die meisten Angriffe werden nicht verfolgt. „Jeder nicht aufgeklärte Mord öffnet die Tür für den nächsten“, kritisiert Daniela Pastrana vom Journalisten-Netzwerk „Periodistas de a Pie“. Die Straflosigkeit liege bei 99 Prozent. Nur drei Fälle seien gelöst worden, seit die Sonderstaatsanwaltschaft bestehe, so die Journalistin. Bei keinem handele es sich um schwerwiegende Angriffe. „Wir haben es hier mit einem strukturellen Problem zu tun, mit einem Versagen des Justizsystems. Dazu gehört auch, dass die Behörde nicht die nötigen Mittel besitzt“, bekräftigt Pastrana.

Sie sieht die Verantwortung aber auch bei den Verlagshäusern:Die Medienunternehmen bringen uns in eine sehr verletzliche Situation. Wir sollen unter extrem hohem Risiko berichten und sind nicht einmal kranken-, geschweige denn lebensversichert.“ Ein Sicherheitskonzept gebe es auch nicht, kritisiert sie. „Wenn man dir deine Ausrüstung klaut, wie es den Kollegen in Guerrero passiert ist, tragen die Medienhäuser keine Verantwortung, obwohl sie dich dorthin geschickt haben.“ Doch es gehe nicht nur um prekäre Arbeitsbedingungen und wenig Lohn, sondern auch um Zensur, bekräftigt sie. Geschäftliche Vereinbarungen mit einigen Gouverneur*innen würden verhindern, dass Medien bestimmte Informationen verbreiten. „Das alles sind Formen der Gewalt, sie sind das erste Glied der Kette“, sagt Pastrana.

Angriffe gegen Journalist*innen werden nicht als gesamtgesellschaftliche Bedrohung gesehen

Mehr Sicherheit, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Klarheit darüber, wie Regierungen Einfluss auf Medienunternehmen ausüben – unter anderem diese Themen standen Ende Juni auf der Tagesordnung einer Konferenz von Pressearbeiter*innen in Mexiko-Stadt. Unter dem Eindruck der zahlreichen Angriffe diskutierten etwa 300 Journalist*innen drei Tage lang in der Hauptstadt. „Wir wollen herausfinden, wie wir uns zusammenschließen können. Und was wir tun müssen, um mit der Gesellschaft im Allgemeinen und konkret zum Beispiel mit Menschenrechtsverteidiger*innen zusammenzukommen“, erklärt die Reporterin Marcela Turati. Schließlich treffe die Gewalt mittlerweile alle. „Wir als Journalisten haben in dieser Situation eine sehr wichtige Aufgabe: Wir müssen dem Schweigen entgegentreten.“

Immer wieder betonen die Pressevertreter*innen die große Bedeutung ihrer Arbeit. Wer soll über das Morden an Oppositionellen berichten, wenn nicht sie? Wer soll die korrupten Geschäfte aufdecken? Und wer soll dafür sorgen, dass die Angehörigen von Verschwundenen zu Wort kommen? Der Fotograf Felix Márquez ist jedoch skeptisch, dass seine Landsleute das so sehen: Der mexikanischen Gesellschaft ist nicht bewusst, dass sich Angriffe gegen Journalisten gegen die gesamte Gesellschaft richten, gegen das universelle Recht auf Information. Solange das nicht wirklich wahrgenommen wird, kann man uns weiterhin ermorden und nichts wird passieren.“

„Als Journalist zu arbeiten, heißt ja, etwas gegen diese Situation zu unternehmen.

Márquez ist aus Veracruz zu dem Kongress in Mexiko-Stadt angereist, also aus einem Bundesstaat, in dem besonders viele Medienschaffende der Gewalt zum Opfer fielen. Achtzehn seiner Kolleg*innen wurden in der sechsjährigen Amtszeit des Gouverneurs Javier Duarte de Ochoa zwischen 2010 und 2016 ermordet, drei sind verschwunden. Meist steckte die Mafia hinter den Angriffen. Doch vieles spricht dafür, dass Duarte mit den Kriminellen kooperierte. Derzeit sitzt er vor Gericht, weil er im großen Stil Geld hinterzogen haben soll. Pressearbeiter*innen fordern, dass auch die Morde juristisch verfolgt werden.

So mancher mexikanische Journalist ist angesichts der gewaltsamen Verhältnisse ausgestiegen und hat sich andere Arbeit gesucht. Auch an Felix Márquez gehen die Gewalttaten nicht spurlos vorbei. Er selbst sei zwar nicht bedroht worden, sagt er. „Trotzdem sind immer wieder Dinge passiert, die mich nachdenken lassen, bevor ich einen journalistischen Auftrag annehme. Zum Beispiel die Morde an Kollegen, die mir sehr nahe standen.“ Ans Aufhören denkt der junge Mann allerdings nicht: „Als Journalist zu arbeiten, heißt ja, etwas gegen diese Situation zu unternehmen. Wenn man schreibt oder fotografiert, dokumentiert man, was passiert.“ Und das kann helfen, das Schicksal der Stadt und des Bundesstaats zu wenden.“

Zu diesem Artikel gibt es bei onda auch einen Audiobeitrag, den ihr hier anhören könnt.

CC BY-SA 4.0 Gegen das Schweigen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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