Brücken bauen statt Mauern – das Recycling-Orchester von Cateura

(Berlin, 17. Februar 2019, npl).- Im Otto-Braun-Saal des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin steht am Abend des 16. Januar 2019 ein Orchesterkonzert auf dem Programm. Fast alle Plätze sind belegt; sogar „su Excelencia“, der Botschafter von Paraguay ist mit seiner Frau gekommen. Auf dem Programm: Das „Orquesta de reciclados de Cateura“, ein Kinder- und Jugendorchester aus Cateura, der größten Mülldeponie Paraguays am Rande der Hauptstadt Asunción. Alle Instrumente des 20-köpfigen Orchesters wurden aus Schrott und recycelten Materialien hergestellt.

Im Großraum Cateura im Süden von Asunción leben etwa 25.000 Menschen. Auf der örtlichen Mülldeponie werden täglich etwa 2000 Tonnen Müll abgeladen. Über 2000 Menschen, die am Rande des Müllberges in ärmsten Verhältnissen leben, suchen in den Abfällen nach Verwertbarem. Für die Kinder und Jugendlichen dort gab es lange kaum Angebote; Instrumente konnte sich erst recht niemand leisten. Doch seit 2006 werden in einer Werkstatt nahe Cateura Violinen aus Konservendosen, Kontrabässe aus alten Ölkanistern und andere Instrumente aus Schrottteilen hergestellt. Kinder und Jugendliche, die unter 25 Jahre alt sind, bekamen die Möglichkeit, das Spielen der selbstgebauten Instrumente zu erlernen und Teil des neuen Orchesters zu werden.

Auftritte in 40 Ländern

Der Direktor des Orchesters ist Favio Chávez, ein etwas untersetzter, freundlicher Mann mit Brille. „Alles hat im Jahr 2006 angefangen“, erzählt er. Chávez hatte damals als Umwelttechniker in Cateura in einem Recyclingprojekt gearbeitet. „Den Kindern der Müllsammler, mit denen ich dort arbeitete, fiel auf, dass ich immer eine Gitarre dabei hatte. Ich hatte vorher schon Musikunterricht an Schulen in der Hauptstadt gegeben. Die Kinder von Cateura hatten auch Lust, ein Instrument zu lernen. Also habe ich ihnen in meiner Freizeit Musik spielen beigebracht. Alles fing klein und improvisiert an, mit einer Gruppe von zehn Kindern.“

Aus der Gruppe von zehn Kindern ist inzwischen eine Musikschule mit 400 Schüler*innen entstanden; sie bildet die Grundlage des Recycling-Orchesters von Cateura. Inzwischen ist das Orchester schon in über 40 Ländern aufgetreten, einmal sogar mit Metallica. Die beeindruckende Geschichte des Orchesters wurde im Jahr 2015 unter dem Titel “Land Fill Harmonic” verfilmt.

Dabei ist unser erster Eindruck beim Konzert in Berlin nicht nur positiv. Vielleicht liegt es am Publikum: Da das Ibero-Amerikanische Institut das Konzert gemeinsam mit der Botschaft Paraguays präsentiert, sitzen „su Excelencia” und weitere geladene Gäste in den dafür reservierten ersten Reihen, dahinter grauhaariges Bildungsbürgertum. Gemeinsam beklatschen sie die einfachen Slogans für mehr Liebe, mehr Musik, mehr Umweltschutz und die aus Armut stammenden lateinamerikanischen Kinder beim Fiedeln europäischer Klassik. Vielleicht ist es auch die unangenehme Art der Zurschaustellung der Kinder und Jugendlichen, die obendrein gelegentlich einzeln musizierend durch die Sitzreihen gehen müssen. Zwischen den Ḿusikstücken wird über sie und ihre Instrumente gesprochen und gewitzelt. Das Publikum ist entzückt. Die Musizierenden selbst kommen kaum zu Wort. In einer schrägen Mischung aus Mini-Playbackshow und Musikantenstadl wirkt die Veranstaltung ziemlich inszeniert, die jungen Orchestermitglieder und die Verhältnisse zu sehr ins rechte Licht gerückt. Die Kinder und Jugendlichen selbst haben allerdings augenscheinlich Spaß am musizieren: Routiniert und enthusiastisch spielen sie sich durch das Programm von Johann Strauss bis zu den Beatles.

Verbrannte Kochtöpfe klingen am Besten

Viele der Jugendlichen wohnen in den angrenzenden Stadtteilen der Deponie von Cateura und sind über ein Stipendium zur Musikschule gekommen. Für sie bietet die Musik neue Zukunftsperspektiven. Der Geiger Wilson zum Beispiel hilft bei der Instandhaltung der Instrumente: „Wir haben eine Recycling-Werkstatt in Paraguay, aber das ist keine normale Werkstatt. Statt Holz siehst du halt Blechdosen. Auf der Deponie von Cateura suchen wir das Material mit dem besten Klang. Zum Beispiel verbrannte Kochtöpfe. Je stärker das Essen verbrannt ist, umso besser klingt der Topf.“ Wilson ist bereits seit neun Jahren Mitglied des Orchesters: „Ich habe unglaubliche Leute kennen gelernt. Wir wollen Brücken bauen, keine Mauern. Und mit der Musik können wir genau das erreichen, denn Musik vereint.“

Korruption ist ein großes Problem in Paraguay

Brücken bauen und keine Mauern – das betont auch der Leiter Favio Chávez während des Konzertes immer wieder. Er ist sichtlich stolz auf das, was er erreicht hat. Hilfe vom Staat hat es dabei nicht gegeben; alles wird durch Spenden und die Gage für die Konzerte finanziert. Neben dem Orchester und der mittlerweile berühmten Musikschule werden einige der Familien unterstützt. Außerdem gibt es Stipendien für die Jugendlichen. „Wir glauben, dass Bildung der Schlüssel ist, damit die jungen Leute aus dem Teufelskreis der Armut rausfinden können“, so Chávez.

Trotz der positiven Aspekte hat der Argentinier Favio Chávez durchaus kritische Töne für seine Wahlheimat Paraguay übrig. Dort gebe es praktisch keine Abfallverwertung und kaum Umweltbewusstsein. Vor allem mit den Behörden geht er hart ins Gericht: „Die Gesellschaft hat inzwischen angefangen, gegen die Abholzung der Wälder zu protestieren. Die Abholzung ist ein großes Problem in Paraguay. Aber erst die enorme Korruption in den Behörden sorgt dafür, dass die ganzen Wälder Paraguays zerstört werden. Die großen Produzenten kaufen einfach die Richter und Staatsanwälte, sie bestechen die Funktionäre, die eigentlich die Abholzung kontrollieren sollen. Und sie kaufen jede Menge Land, selbst wenn da noch Menschen wohnen. Die Korruption, die all das zulässt, ist wie ein Krebsgeschwür.“

Bildung ist für Orchesterleiter Chávez der Schlüssel, um der Gesellschaft das nötige Umweltbewusstsein zu vermitteln. Die Gesellschaft dürfe das Problem nicht den Behörden überlassen, sondern müsse sich stärker gegen Korruption und Straflosigkeit richten.

Zu dem Artikel gibt es auch einen Audiobeitrag.

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