Protestwelle in Brasilien bringt über eine Million Menschen auf die Straße

von Andreas Behn, Rio de Janeiro

(Berlin, 20. Juni 2013, npl).- Das Maracanã, der legendäre Fußballtempel in Rio de Janeiro, blieb diesmal von Protesten verschont. Unbehelligt rang Spanien Tahiti sportlich mit 10:0 nieder, während im Zentrum die Geschäfte bereits um 15 Uhr die Läden herunter ließen. Nicht zu Unrecht. Wenig später sammelten sich 300.000 Menschen an der Candelaria-Kirche und brachen zu einem eindrucksvollen Demonstrationszug auf.

Eine Million Menschen demonstrierten

Die Polizei, die sich zuletzt zurückgehalten hatte, nachdem ein brutaler Einsatz in Sao Paulo die Protestwelle erst richtig ins Rollen gebracht hatte, setzte auf Konfrontation. Vor dem Rathaus griff sie den friedlichen Zug mit Tränengas und Gummigeschossen an, der Auftakt zu Auseinandersetzungen, die sich bis spät in die Nacht hineinzogen.

Es war der bisher größte Protesttag für bessere öffentliche Dienstleistungen in Brasilien. In über 100 Städten gingen am Donnerstagabend (20.06.) über eine Million Menschen auf die Straße. An mehreren Orten kam es zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Hunderte Menschen wurden verletzt, viele wurden festgenommen. Ein Mann starb während der Proteste in der Stadt Ribeirão Preto, als ein Fahrer sein Auto in die Demonstration lenkte. Aufgrund der gespannten Lage im Land verschob Präsidentin Dilma Rousseff eine Reise nach Japan.

Tränengas, Gummigeschosse und Belagerung des Außenministeriums

In der Hauptstadt Brasilia verhinderte ein massives Polizeiaufgebot einen Sturm auf das Außenministerium. Zehntausende belagerten stundenlang das Regierungsviertel. In vielen Städten wurden Autos angezündet und Fensterscheiben eingeschmissen. Die Polizei ging mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstrant*innen vor. Journalist*innen wurden bei ihrer Arbeit behindert, ein Fernsehreporter wurde von einem Gummigeschoss an der Stirn getroffen. Bereits vergangene Woche waren über zehn Journalist*innen während ihrer Arbeit von der Polizei verletzt worden.

Ausgelöst durch die Erhöhung von Buspreisen, entlädt sich auf den Demonstrationen der Unmut über eine Vielzahl von Missständen. Der Protest richtet sich gegen Korruption in der Politik und Verschwendung von Steuergeldern. Kritisiert werden auch die milliardenschweren Ausgaben für die Fußball-WM im kommenden Jahr und die Olympischen Spiele 2016. Die Menschen verstehen nicht, warum es nach Jahren boomender Wirtschaft so wenig Geld für das Gesundheitssystem gibt, warum staatliche Universitäten oft überfüllt und baufällig sind.

Vor allem eine urbane Protestbewegung

Alle fragen sich in Brasilien, wie so plötzlich eine derart große Protestwelle entstehen konnte.„Brasilien ist aufgewacht“ skandieren die Demonstrant*innen. Auf selbstgemalten Pappschildern tragen sie ihre Forderungen vor. „Wir wollen Krankenhäuser mit Fifa-Standard“ oder „Korrupte Politiker, euer Mandat ist begrenzt, das unsere nicht.“

Es ist in erster Linie eine urbane Protestbewegung. Getragen wird sie vor allem von Student*innen und jungen Leuten aus der Mittelschicht. Viele von ihnen waren bis vor wenigen Wochen noch nicht politisch aktiv. In den Städten, insbesondere in den beiden Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro, ist der Kontrast zwischen schneller wirtschaftlicher Entwicklung und veralteten Stadtplanungskonzepten besonders deutlich.

Verfehlte Stadtplanung

Die Zahl der Autos ist in zehn Jahren sechsmal so schnell gestiegen wie die der Bevölkerung. Da die Städte auf individuellen Verkehr ausgerichtet sind, kommt es täglich zu kilometerlangen Staus. Es wurde versäumt, in öffentlichen Nahverkehr zu investieren, Konzepte für eine gerechte, lebenswerten Stadt gibt es nicht. So wird der Alltag zu einem Problem, für alle. Und das Vertrauen in die Politiker*innen schwindet.

Auch die Investitionen für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele wurden kaum für eine bessere Nutzung des öffentlichen Raumes genutzt. „Die neuen Verkehrsweg verbinden nur die reichen Touristenviertel mit den Spielstädten oder dem Flughafen,“ kritisierte der Urbanistikprofessor Orlando dos Santos Junior. Schon mit weit weniger Geld hätte Rio de Janeiro ein vernünftigen öffentlichen Nahverkehr aufbauen können, so Dos Santos Junior.

Aus Sicht der Demonstrant*innen sind die Ausgaben für die Sportveranstaltung eine Fehlinvestition, die an den Bedürfnissen des Landes vorbeigeht. So nutzen sie den Federations-Cup, der zurzeit in Brasilien zur Vorbereitung auf die WM stattfindet, als Bühne, um ihren Protest deutlich zu machen.

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